Kolumne Habibitus: Liebe Angelo Merte
Ich wünschte, Sie würden nicht gehen. Ich war nie Fan von Ihnen, aber ich werde Ihr empowerndes Bitch-Face vermissen.
I ch sage es ganz offen und ehrlich: Ich war nie Fan von Ihnen. Auch nicht ironisch. Höchstens, wenn Sie Girlboss-like Hörsten wie Horst Seehofer zeigen, wer die Hosen anhat. Ihr legendärer Blick beim Treffen mit Trump? Einfach nur ikonisch. Ihr Standhalten gegen Ihre reaktionären Parteikolleg_innen? Ehrenhaft. International gelten Sie fast schon als linksliberale Open-Boarder-Maus und es wäre natürlich schön, wenn Sie es wären. Oder noch besser: linksradikal!
Als Sie 2005 Kanzlerin wurden, war ich 13 Jahre alt und nicht sonderlich begeistert. Ich hatte nicht das Gefühl, dass eine KanzlerIN eine radikale Verbesserung in mein Leben bringen würde. CDU halt. Aber jetzt, wo Sie Schluss machen wollen, wünschte ich, Sie würden noch ein paar Kandidaturen mitmachen, denn Sie sind tausend Mal besser als die Personen, die zukünftig an Ihre Stelle treten könnten.
Zum Beispiel „Yesterday-Jens“ Spahn. Dieser weltfremde, frauenhassende Snob zeigt sich in sozialen, gesundheitlichen und demografischen Fragen absurd inkompetent. Klar, er würde sich in die Scharen an reaktionären, aber sonst eher peinlichen Herrklärern von Seehofer über Kurz bis Trump gut einreihen. Aber brauchen wir wirklich noch so einen?
Während weiße schwule cis Männer sich ausrechnen, ob er als schwuler Kanzler was für LGBTI-Rechte klären würde, möchte ich jetzt schon die Handbremse ziehen. Wenn Repräsentationspolitik so funktionieren würde, hätten wir mit einer ostdeutschen Kanzlerin wie Sie keinen Topos der abgehängten Ostdeutschen. Nazis aus Chemnitz oder Köthen wüssten: „Wenn eine ostdeutsche Frau Kanzlerin werden kann, haben wir es geschafft. Jetzt können wir uns nur selbst im Weg stehen. Ausländer nehmen uns nicht mehr unsere Jobs weg.“ Stattdessen werden Jobs geschaffen, mit denen „Ausländer“ aus dem Weg geräumt werden.
Ein Einwanderer aus Eritrea antwortete einst auf die Frage, wer Bundeskanzler sei, mit „Angelo Merte“. Diese Antwort wurde zum Internet-Meme.
Selbst mit Alice Weidel als Homo-Doppelspitze würde sich für LGBTI-Rechte nichts zum Positiven ändern. Sie beide gehören konservativen bis rechtsextremen Parteien an, die für LGBTI-Personen lediglich ein paar Alibi-Funktionen übrig haben. Da sehe ich bei Ihnen mit Ihren bunten Blazern und perfektioniertem Bitch-Face mehr lesbisches Empowerment. Und was erwartet man schon von einem Politiker, dessen Kollege Seehofer erst vor Kurzem die Chance eines selbstbestimmten Geschlechtseintrags genommen und reingeschissen hat? Mehr weiße schwule cis Männer als Leiter von Abschiebeknästen und Lagern?
Wie Mely Kiyak in ihrer Zeit-Kolumne schreibt, wird mit Ihnen auch eine Grenze der respektvollen Rhetorik gehen. Während Sie noch bemüht waren, trotz konservativer Politik menschlich aufzutreten, haben Ihre Kolleg_innen den Schuss schon lange nicht mehr gehört. Liebe Angie, bitte lassen Sie uns nicht mit diesen Nazis und Nazi-Sympathisant_innen alleine!
GaLieGrü, Hengameh
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krise bei VW
Massiver Gewinneinbruch bei Volkswagen
VW-Vorstand droht mit Werksschließungen
Musterknabe der Unsozialen Marktwirtschaft
Verfassungsgericht entscheidet
Kein persönlicher Anspruch auf höheres Bafög
Kamala Harris’ „Abschlussplädoyer“
Ihr bestes Argument
Zu viel Methan in der Atmosphäre
Rätsel um gefährliches Klimagas gelöst
Nahostkonflikt in der Literatur
Literarischer Israel-Boykott