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Kolumne GlobetrotterBartleby ist wieder da

Kolumne
von Elise Graton

Im Winter sollte man Berlin verlassen. Das ist der Autorin nicht gelungen. Stattdessen befindet sie sich im Strudel der Kapitalismuskritik.

Den Kapitalismus in seinem Lauf hält auch keine Wassergymnastik auf Foto: dpa

D as jährliche Fliehen vor dem Berliner Winter ist mir diesmal nicht gelungen. Dazu fehlte es einfach an allem: Geld, Zeit, Planung, wohl auch Fantasie.

Als Ersatzmittel gegen den saisonal drohenden Motivationsmangel ging ich gleich am ersten Mittwoch des neuen Jahres ins Schwimmbad. Bei der Wassergymnastik waren wir gerade mal zu fünft, die Halle sonst wie verwaist. So blieb ich nach dem Training noch eine Weile allein für mich im Wasser, schloss die Augen, dümpelte dunkel auf dem Rücken im lauwarmen Wasser vor mich hin, wobei ich Beine und Arme etwas synchron auf- und zuklappte, ein wenig wie ein Tintenfisch. Dabei dachte ich an nichts. Es fühlte sich gut an, vielleicht wie früher im Mutterbauch.

Draußen herrschten eisige Temperaturen. und als ich die Halle verließ, musste ich aufschreien. Aber ich war stolz auf mich, rausgekommen zu sein – aus dem Bett, aus der Wohnung, ins Schwimmbad. Und ich nahm mir vor, diesen Januar mit weiteren Exkursionen zu überbrücken, die mich an dunkle und unvertraute Orte führen.

Cocktailklause, Punk-Disko, Gay-Bar

Mein großer Survivalplan führte mich seitdem in eine Cocktailklause, eine Punk-Disko, eine Gay-Bar – und zuletzt am Donnerstag in den Roten Salon der Volksbühne. Dort hatte das Haus Bartleby (Zentrum für ­Karriereverweigerung) zur Präsentation seines neuen Buches „Das Kapitalismustribunal“ geladen.

Ich ging, weil auch ich – jahreszeitenunabhängig – es eher vorziehe, nicht zu viel zu arbeiten, und nicht zuletzt wegen Achille Mbembe, der zu den Podiumsgästen gehörte. Leider schaffte es der Theoretiker des Postkolonialismus wegen Flugproblemen nicht nach Berlin. Dafür kam meine Freundin L. mit, die das Bartleby-Projekt vage auf dem Radar hatte, ohne bisher den Büchern oder Performances begegnet zu sein.

Als die Veranstaltung vorbei war, meinte sie: „Toll. Mir ist wieder bewusst geworden, dass Kapitalismus von Menschenhand ist – also keine Fatalität.“

Aber erst mal werden wir wohl wieder kollektiv gegen die Wand krachen müssen, meint C.

Auf dem Weg raus zurück in den Winter überholen uns im Treppenhaus zwei Jungs. Der eine bestätigt: „Man findet keine praktischen Hinweise im Buch, aber es vermittelt ganz gut, dass es etwas jenseits des Kapitalismus gibt“.

Das klingt ja vielverheißend, meine ich, vor allem weil gerade gesagt wurde: Kapitalismus verschlingt und vereinnahmt alles – selbst Widerständler, Verweigerer, Außenseiter. Er überlebt auch ohne sie. Oder er macht ein lukratives Geschäft aus ihren Marotten.

Mir scheint es, als ob vor fünf Jahren der Bartleby-Abend noch als naiv belächelt worden wäre: „Was jetzt tun?“ „Welchen Hebel haben wir?“ L. und ich wollen trotzdem das Ganze noch mal Revue passieren lassen. Also schlage ich vor, zu C. zu gehen, der um die Ecke wohnt, das Haus kaum verlässt, sich aber gern nacherzählen lässt, was draußen so passiert, und zu allem eine Meinung hat.

Nach fünf Tees

Auch an diesem Abend lässt sich C. nicht zweimal bitten und so sitzen wir in seiner Küche und überbieten uns gegenseitig mit großen Fragen & Antworten, bis nach fünf Tees unser Fazit lautet: Obwohl heute, wie bei der Bartleby-Diskussion auch klar wurde, der allgemeine Unmut lauter ist als je und die Welt auf einer ungeahnten Solidaritätswelle surfen könnte, tritt doch das Gegenteil ein.

Demokratie und Kapitalismus waren eigentlich nie als kompatible Nummern gedacht. Pluralismus ist komplizierter als Populismus. Und erst wenn sich alle darauf einigen können, die Natur zu respektieren, wird auch das Recht auf Wohnen, Flüchtlingshilfe, Gleichstellung der Geschlechter und so weiter Selbstverständlichkeit geworden sein. Aber.

„Aber erst mal werden wir wohl wieder kollektiv gegen die Wand krachen müssen“, meint C., und macht noch eine letzte Runde Tee. Noch wissen wir nicht, wie der Aufprall aussehen und wie er sich anfühlen wird.

Nachdem C. das Wasser verteilt hat, halten wir eine unfreiwillige Schweigeminute. Die Nase über dem Dampf beobachten wir im Gedanken versunken, wie der Teebeutel im Strudel ein paar komische ­Drehungen absolviert, langsam absackt, und dann müde versinkt. „Jetzt hört mal“, unterbreche ich die Stille, „wie wär’s morgen zur ­Abwechslung mit einer gemeinsamen Runde Wassergymnastik?“

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1 Kommentar

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  • Was Herman Melville wohl dazu sagen würde, dass ein Zentrum, dass sich der Karriereverweigerung widmet, den Namen seines Protagonisten (be)nutzt? Bartleby, der Schreiber, so mein Verständnis der Lektüre, hat seine Arbeit weder aus Kapitalismuskritik noch aufgrund von Ausbeutung durch seinen Vorgesetzten verweigert. Bartleby hatte erstens einen sehr liebenswürdigen Vorgesetzten und zweitens ist er am Ende gestorben, und zwar, weil seine Verweigerung der Verweigerung des Lebens an sich galt. Jedem ist dieses kleine Buch ans Herz gelegt.