Kolumne German Angst: Von Dinter zu Scheuer
Wenn man in einer sibirischen Bibliothek am Tag der Deutschen Einheit auf antisemitische Propaganda stößt – dann passt das schon zusammen.
E s ist Montag der 3. Oktober und ich befinde mich jenseits der deutschen Realität. Weit weg von Dresden. 5.065 Kilometer östlich, um genau zu sein. Trotz des dichten Nebels kommt mir Nowosibirsk nicht so trostlos vor wie Dresden. Hier nämlich macht sich niemand Gedanken darüber, ob es sich nun gehört, die deutsche Nation eben dort zu feiern, wo in ihrem Namen Sprengstoffattentate verübt werden, um Menschen zu töten, die man nicht zur deutschen Nation zählt.
Heute Morgen allerdings hätte Deutschland kaum näher sein können. Zwischen den europäischen Klassikern, zwischen Tolstoi, Leskow, Proust und Gide stieß ich in der Bibliothek auf ein in Leinen gebundenes Buch. Genauso abgegriffen wie die anderen zwar, aber doch ganz anders: „Die Sünde wider das Blut“ von Artur Dinter.
Der völkisch-deutsche Bildungsroman schlechthin. Es war das einzige deutschsprachige Buch in Regal. 1917 erschienen, wurde er zu einem absoluten Bestseller. Der Inhalt ist schnell erzählt: Elisabeth, die blonde Verlobte des Helden Hermann Kämpfers, lässt sich in Gedanken auf einen jüdischen Baron ein, und gebiert der Nation ein Kuckuckskind, unrein, hässlich und verkommen.
Der Roman ist ein simples Lehrstück, auch über heutige kollektive Affekte: Denn als damals die Gesellschaft durchlässiger wurde, Frauen in die Öffentlichkeit drängten, die deutschen Juden die Gettos verließen und ununterscheidbar wurden, war die Reaktion so: Zuerst markierte man sie mit Gewalt, dann stieß man sie aus. Dann ermordete man sie.
Was wäre auch die Alternative vor dem Hintergrund einer Idee, die die Gesellschaft nicht als Gesamtwert von Individuen begreift, sondern als organischen Körper, als ein Projekt eben nicht zur Befreiung sondern der Sorge um Reinheit? Die Infiltrierung schließlich geschieht ununterbrochen und die Unreinheit des Volkes ist nicht sichtbar.
Homogener Organismus
Jene Idee der Nation als ständig bedrohter, homogener Organismus ist in Deutschland nie verschwunden, in den vergangenen Monaten aber vom politischen Rand zurückgekehrt in die Mitte der Gesellschaft; dorthin, wo man sein Herz auf der Zunge trägt.
Jene völkische Idee, auf die Frauke Petry sich bezieht und die sich nicht übersetzen lässt – völkisch bleibt deutsch, selbst im Russischen oder Französischen. Hierauf basiert die Vorstellung der „Umvolkung“, die dei CDU-Bundestagsabgeordnete Bettina Kudla von der Straße zurück ins Parlament getragen hat.
Artur Dinter, der uns gezeigt hat, dass sich selbst der Gedanke an die Vermischung rächt, ist ziemlich lebendig. Denn wenn CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer Menschen, die gegen alle Widrigkeiten zum Teil der deutschen Gesellschaft geworden und also auf dem Weg in die Akzeptanz, die Ununterscheidbarkeit sind, als „das Schlimmste“ bezeichnet, ist dies Dinter’scher Klartext. Denn es bedeutet: Wir werden dich immer erkennen. Und: Die Forderung nach Integration war schon immer nur ein rhetorischer Kniff.
Und nun: Feiern Sie schön weiter, denn vielleicht wird es Ihnen bald schon vergehen.
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