Kolumne Die eine Frage: Wen kann ICH noch wählen?
Die einen tendieren zu „Frau Merkel“, die zweiten zu Lindner von der FDP und die dritten zu sich selbst. Eine aktuelle Wähleranalyse.
![Christian Lindner hält ein Jackett vor einer Autotür Christian Lindner hält ein Jackett vor einer Autotür](https://taz.de/picture/2191167/14/18904524.jpeg)
M ein absoluter Lieblingssatz dieser Tage lautet: „Also, ICH weiß gar nicht, wen ICH noch wählen kann!“ Okay, wir sind inmitten eines weiteren Bundestagswahlkampfes, in dem nicht über die zukunftsentscheidenden Dinge gesprochen wird.
Das ist ein Problem. Aber hinter dieser im Empörungsmodus vorgetragenen Klage steht zu oft undemokratische Selbstverliebtheit. Das Gefühl, dass die zur Wahl stehenden demokratischen Parteien den eigenen Ansprüchen an Solidarität und Nonkonformismus, an universalistische Moral und Haltungsästhetik, nicht annähernd genügen. Auch oder gerade jene Partei nicht mehr, die man sonst immer wählte.
Ich frage dann gern: Welche drei realistischen politischen Projekte sind denn für Sie zentral? Dann ist Schweigen im Walde.
Die zweite emotionale Dynamik in den Milieus, die mir zugänglich sind, konzentriert sich in der Frage: Soll ich Frau Merkel wählen? (Man sagt ja jetzt „Frau Merkel“.) Das sind Leute, die Frau Merkels Politikmix aus Sozialdemokratie, identitätspolitischer Liberalität und sozialökologischer Apathie als verlässlichen Umgang mit einer Welt schätzen gelernt haben, in der es – laut Peter Sloterdijk – fast nur darum geht, unter verschiedenen Übeln das für den Moment kleinste zu finden. Dennoch sind diese Menschen hin- und her gerissen, weil sie mit der Union kulturell nichts zu tun haben wollen und Frau Merkel wählen nicht dem idealistischen Bild entspricht, das sie von sich selbst entworfen haben. Ihnen zittert jetzt schon die Hand beim Gedanken an die Wahlkabine.
Bewegung weg von den Grünen
Auch die dritte neue Bewegung führt von den Grünen weg. Hier lautet die Frage: Wen wähle ich, wenn ich mich jung, digital, nonkonformistisch und ,ähem, leistungsbereit fühle, ohne Festanstellung, und das vielleicht sogar absichtlich? Die wahrscheinlichste Antwort: Lindner. Es ist noch offen, wie es sich wirklich mit dem Politikangebot der FDP verhält für diese Jungen, die eben keine „Klasse“ sind, sondern Einzelkämpfer auf der Suche nach politischer Repräsentation. Aber es sieht aus, als seien nicht mehr die Grünen, sondern als sei im Moment der FDP-Spitzenkandidat die Identitätsprojektion.
Das darf aber nicht sein?
Tja. Dagegen hilft jedenfalls kein Skandalisierungsversuch von Lindners Ukraine-Position. Diese Individualisten wollen nicht Teil eines Kollektivs sein, das sich über permanente Gesinnungschecks und Empörungsrituale selbst die Pfoten abschleckt. Sie wollen auch nicht den „Mehr Gerechtigkeit für alle“-Chören von Gotthilf Schulz beitreten. Sie wollen akzeptiert sein und politisch unterstützt werden in dem, was sie sind und machen – nämlich ihr Ding. Schleswig-Holsteins Vize-Ministerpräsident Robert Habeck hat so im Spiegel den Erfolg von Emmanuel Macron entschlüsselt, der im halblinks-halbrechts-Denkstandard nicht zu begreifen ist. Für Habeck besteht der Sprung darin, eine politische Form und Sprache gefunden zu haben, die „das Subjektive, das Nicht-Gleiche aufgenommen und formuliert“ habe. So hat Macron – wie zuvor Winfried Kretschmann – eine neue Mehrheit der Nicht-Gleichen zusammengebracht. Dadurch ist man – theoretisch – an dem Punkt, an dem man endlich nicht mehr sagen muss, wer und wie man nicht ist. Sondern klären kann, was man zusammen erreichen will.
Während SPD und Grüne ihre Spitzenkandidaten klein halten, hat Angela Merkel es geschafft, weit über die traditionelle Verortung einer Partei hinauszuweisen. Das ist, bei allen internen Problemen, das Erfolgsprinzip und die Zukunft. Wer das versteht und dann auch noch sprechen kann, der wird eine neue Mehrheit gewinnen. Womöglich sogar für sozialökologische Politik. Allerdings bis auf weiteres nicht innerhalb der Grünen Partei.
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