Kolumne Das Tuch: Übersetzen nur im Hinterzimmer
Türkisch lernt man nicht, türkisch verlernt man lieber gleich wieder. Denn meine Muttersprache zählt hier nicht.
I ch sitze zuhause vor dem großen Computer-Bildschirm und ziehe die klobige graue Tastatur zu mir hin. Der Rechner brummt und fährt lautstark hoch. Aufgeregt und ungeduldig rutsche ich auf dem Drehstuhl hin und her. Ich bin vierzehn Jahre alt und muss - ganz wichtig -am Computer arbeiten.
"In diesem Jahr werdet ihr ein Schulpraktikum machen", hatte meine Lehrerin am Vormittag in der Klasse angekündigt. Begeistert tauschten wir Schüler uns über unsere Berufswünsche aus.
Für mich steht fest: Ich will Kinderärztin werden. Und deshalb werde ich mich bei einer Kinderarztpraxis bewerben. "Zur Bewerbung gehört außerdem ein Lebenslauf", erklärte uns meine Lehrerin. Toll, ein Lebenslauf! Ich rekapituliere mein erst vierzehnjähriges Leben.
KÜBRA YÜCEL ist Autorin der taz.
Das sind meine Familie, meine Grundschule und das Gymnasium. Dann liste ich die kleinen Erfolge bei Kunstwettbewerben und Sportwettkämpfen auf. Hat alles natürlich nichts mit Kinderärzten zu tun.
"Sprachkenntnisse" steht auf der Lebenslauf-Anleitung meiner Lehrerin. Deutsch, Englisch und Latein tippe ich in den Computer. Und Türkisch? Soll ich auch Türkisch, meine Muttersprache, auflisten?
Nein. Irgendwie zählt Türkisch nicht, denke ich intuitiv. Denn Türkisch ist nicht Französisch, Spanisch oder Englisch, sondern eine Sprache der Einwanderer. "Türkisch wird hier nicht gesprochen", sagte mir meine Lehrerin in der Grundschule in einem herablassenden, sehr erniedrigenden Ton. Türkisch lernt man nicht, Türkisch verlernt man.
Meine Mutter liebt Poesie. Meinen Bruder hat sie nach Mehmet Akif Ersoy benannt, einem berühmten türkischen Dichter. Mir hat sie schon als Kleinkind türkische Gedichte beigebracht, die ich dann auf Familientreffen und kleineren Veranstaltungen vortrug.
Und schon bevor ich in die Vorschule ging, konnte ich Türkisch und sogar Arabisch lesen. In der Schule und woanders interessierte das niemanden.
Wie es wohl gewesen wäre, wenn man solche Zweisprachigkeit als das erkannt hätte, was sie eigentlich ist: einen kostbaren Schatz und eine Bereicherung für die Gesellschaft. Was wäre, wenn man die sprachliche und kulturelle Pluralität gefördert hätte, anstatt die Kinder dafür zu strafen.
Wie hätten sich meine ausländischen Mitschüler entwickelt, hätten wir in der Schule neben Goethe und Schiller auch von Kisakürek, Hafes, Tolstoi, Pamuk und Kaminer gelesen.
Was wäre geschehen, wenn man in den Migrantenkindern keine Probleme, sondern Potenzial und Zukunft gesehen hätte. Hätte man aufgehört, Misserfolge auf ihre ethnische Herkunft zu reduzieren, die sie weder ausgesucht haben noch ablegen können.
Hätte man den Kindern Raum für ein deutsch-ausländisches Selbstbewusstsein gegeben. Hätte man das Kind fühlen lassen: Du bist etwas wert. Hätte, hätte. Was wäre, würde man das heute ändern?
Ich bekomme eine Zusage für das Praktikum in der Kinderarztpraxis. Als türkische Mütter mit ihren Kindern in die Praxis kommen und mich um Übersetzungshilfe bitten, werde ich in den Hinterraum geschickt. Hier wird kein Türkisch gesprochen.
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