Kolumne Darum: Die Gnade der Filzstifte

Stress, wohin man auch schaut. Er malt. Die Termine vor Weihnachten häufen sich. Sie malt. Schnell noch Geschenke besorgen. Wir alle malen.

Eine brennende Kerze

Sieht aus wie gemalt. Foto: dpa

In der Vorweihnachtszeit brachte meine Lehrerin eine Kerze in den Deutsch-Leistungskurs mit. Das sei festlich, sagte die bekennende Konservative, und so könnten auch wir Linken und Atheisten einen Teil der Gnade Gottes erfahren. Sie fühlte sich – wie so viele Konservative – als Teil einer Minderheit. Am Siegerland-Kolleg für Erwachsenenbildung war sie es auch.

Wir saßen dann da, interpretierten Goethe, Lessing und Brecht nach Form und Inhalt, und zwischen uns flackerte die große Kerze des Roten Kreuzes. Der ganze Vorweihnachtszinnober ging mir auf die Nerven, Gottes Gnade erfuhr ich nie, Goethes Gnade auch nicht.

Wir linksradikalen und linksliberalen Atheisten stritten über die Kerze. Manche sahen darin eine nette Geste, die Verlangsamung im immer schneller werdenden Kapitalismus andeute. „Eben“, antworteten andere, „Andeutungen, Gesten“, das alles sei konservativer Zierrat, der die Härte der Verhältnisse mit mildem Licht umgebe, sie aber nicht beseitigen wolle.

Heute weiß ich, dass die Lehrerin – Mutter von vier Kindern, vollzeit berufstätig, karitativ engagiert – nur versucht hat, die Vorweihnachtszeit ein wenig ertäglicher zu machen. Für sich selbst. Für uns. Für wen auch immer. Denn die Wochen vor Weihnachten sind für Eltern, konservativ gesagt, oft die Hölle.

Dunkelheit, Weihnachtsfeiern, Besorgungen

Es kommt in dieser Zeit alles zusammen: Verregnete Spätherbsttage mischen sich mit fiesestem Frühwinter. Draußen ist feindlich. Es gibt zu viel Matsch und zu wenig Tageslicht. Elternabende im Akkord, weil sie noch vor den Ferien stattfinden müssen. Weihnachtsfeiern – schön!, aber gleich so viele? –, verkaterte Tage nach Weihnachtsfeiern, über Geschenke nachdenken, Geschenke besorgen, Geschenke doppelt besorgen, Geschenke wieder umtauschen. Stress und Hektik, wohin man auch schaut.

Mein Sohn malt. Er malt vorgedruckte Bilder mit bunten Filzstiften aus. Mal sind es Felder zwischen Linien, mal Felder zwischen Kurven, manchmal auch geometrische Figuren. Nichts Eigenes zeichnen, nur mit Filzstiften ausmalen. Viele Bilder, viele Filzstifte, viele Muster, viele Farben.

Mein Sohn malt. Meine Tochter malt. Meine Frau malt. Ich brodele vor Unruhe, könnte vor lauter Anspannung unser Sofa erschießen.

Wir Eltern keuchen. Wer besorgt nun was? Wer geht umtauschen? Schaff ich das noch vor der Weihnachtsfeier? Oder nach dem Elternabend? Mein Sohn malt. 40 Felder, 15 Farben. Auch meine Tochter hat Stress: Vor den Ferien müssen noch Tests oder Klassenarbeiten in allen Hauptfächern geschrieben werden. Dann Fußballtraining, Chor, Babysitten bei Freunden. Wie will sie das alles ... – sie schaut ihren Bruder an, setzt sich daneben, greift sich einen Vordruck und Stifte.

Mein Sohn malt. Meine Tochter malt. Meine Frau hat schlechte Laune. Studium, Unterricht, Besorgungen, Termine, Ärger, Sorgen und Nöte. Dreht sie bald ... – sie schaut die Kinder an, setzt sich daneben, greift sich einen Vordruck und Stifte.

Mein Sohn malt. Meine Tochter malt. Meine Frau malt. Ich brodele vor Unruhe, könnte vor lauter Hektik und Anspannung unser Sofa erschießen. Ich schaue mir die Familie an, setze mich daneben, greife mir einen Vordruck und Stifte. Ich male. Wir alle malen. Stress ist anderswo. Ich erfahre die Gnade der Filzstifte.

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Jahrgang 1969, Leitender Redakteur des Amnesty Journals. War zwischen 2010 und 2020 Chef vom Dienst bei taz.de. Kartoffeldruck, Print und Online seit 1997.

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