Kolumne Darum: Die Welt neu entdecken
Die Kinder streiten sich mal wieder. Diesmal um Filme. Zum Glück kann man von Flüchtlingen und Migranten viel lernen.
Neujahrsabend. Ich steige aus der U-Bahn, Platz der Luftbrücke, gehe die Treppe hoch und blicke auf den Mehringdamm. Eine vierspurige Straße nahe dem Zentrum von Berlin, sehr trist, überall liegt noch Raketen- und Böllermüll aus der Silvesternacht.
Es ist dunkel, und doch mischt sich das Grau des Tages als Nebel in den Abend. Hinter mir kommen drei junge Männer die Treppe hoch. Sie sehen das Gleiche wie ich, und sie brechen in Tränen aus. „Na“, denke ich, „sieht fies aus, aber so schlimm ist es nun auch wieder nicht.“
Viel zu spät begreife ich, dass die Männer vor Freude weinen. Zwei von ihnen stammen aus Syrien, einer aus dem Irak. Sie sind über München eingereist und nach Berlin verteilt worden, vom Hauptbahnhof wurden sie zum Flughafen Tempelhof geleitet, wo sie vorerst bleiben sollen. Am Platz der Luftbrücke haben sie nun die Gelegenheit, sich umzusehen, wo sie künftig leben werden. Und dieser neblige, vermüllte Ort berührt sie sehr.
Drei Tage später. Die Temperatur sinkt. Ich fluche wegen der Kälte vor mich hin, werde aber von einem Familienfest abgelenkt. Dort erscheint auch ein Onkel. Er hat spät geheiratet, eine Frau aus Thailand, die seit wenigen Wochen in Deutschland lebt und ihre 13-jährige Tochter mitgebracht hat.
Es schneit, und die 13-Jährige sieht zum ersten Mal in ihrem Leben Schnee. Sie will nur noch raus, Schneebälle werfen, herumschlittern, sich mit diesem seltsamen Stoff vertraut machen. Sie lacht in einem fort.
Schnee im Hochsommer
Die Tränen der Flüchtlinge und das Lachen des Mädchens laden dazu ein, die vertraute Welt anders zu sehen, ein Update der eigenen Gewohnheit zu machen. Mein Blick fällt auf meine Kinder, die zusammen mit der 13-Jährigen einen Schneemann bauen. Sie haben Spaß daran, der Enthusiasmus eines Kinds, das nie Schnee gesehen hat, überträgt sich auf sie.
Der Blick auf den vermüllten Mehringdamm am Neujahrsabend hat mich sofort an die Schultasche meiner Tochter erinnert
Als sie selbst zum ersten Mal mit uns einen Schneemann bauen sollten, da haben sie gebrüllt. Nicht vor Freude, sondern weil ihnen kalt war und der Rotz aus der Nase lief. Sie waren da eineinhalb oder zwei Jahre alt. Die eine brüllende Rotznase ist nun in der Pubertät, der anderen fehlen noch zwei, drei Jahre, bis sie dort ankommt, sie übt aber schon, sich so zu verhalten.
Der Blick auf den vermüllten Mehringdamm am Neujahrsabend hat mich sofort an die Schultasche meiner Tochter erinnert; die Gemeinsamkeiten sind verblüffend. Der Temperatursturz ein paar Tage später kommt in etwa der Reaktion gleich, die mein Sohn zeigt, wenn man ihn darauf anspricht, dass er mal wieder zu viel Zeit vor Bildschirmen verbringt. Ein Wunder, dass es in unserer Wohnung nicht regelmäßig schneit – auch im Hochsommer.
Gemeinsam sind sie noch schlimmer. Die Planung eines Familienfilmabends eskaliert in fünf Minuten, weil sie nicht in der Lage sind, sich auf einen Film zu verständigen. „Du hast aber letztes Mal ...“ trifft auf „Immer soll ich nachgeben ...“, die Wut nimmt schneller zu, als man „Film“ sagen kann.
Das ist die vertraute Welt, auf die ich dank dreier Flüchtlinge und eines thailändischen Mädchens nun anders blicken kann. Und ich sehe: zwei wunderbare Kinder.