Kolumne Balkongespräche: Unübersichtliches Wurzen
Auch Deutsche unter den Tätern? Die Polizei Leipzig trennt zur besseren Übersichtlichkeit zwischen „Deutschen“ und „Ausländern“.
M eine Nachbarin sagt, in der Eisenbahnstraße müssten noch mehr Polizisten Streife fahren. Das würde was gegen ihr Image als „gefährlichste Straße Deutschlands“ tun. So heißt die Straße im Leipziger Osten seit einer berüchtigten Reportage, die gefühlt die halbe Republik gesehen hat. „Aber die Polizei nennt ja fast nie die Herkunft der Täter“, sagt meine Nachbarin noch enttäuscht.
Da kennt sie die Leipziger Polizei aber schlecht. In der Landkreisstadt Wurzen ging es in der Nacht auf Samstag vergangener Woche reichlich unübersichtlich zu: Nach einem Streit in der Innenstadt eskalierte ein Streit zwischen selbsternannten Wurzener Ureinwohnern und Bewohnern einer Flüchtlingsunterkunft, oder wie es die Polizei dann zur besseren Übersichtlichkeit formulierte: zwischen Deutschen und Ausländern.
Weil man noch nicht sagen könne, welcher Anlass die Gewaltkette begründete und ob sie sich überhaupt wie in der Pressemitteilung beschrieben abgespielt hat, „muss zur Vereinfachung leider auch auf die wenig differenzierenden Begriffe ‚Deutsche‘ und ‚Ausländer‘ zurückgegriffen werden“, beschreibt die Polizeidirektion ihre hübsche Kausalität. Dabei ist eigentlich nur eine der beiden Bezeichnungen neu, nämlich, dass dort „Deutsche“ auch als solche benannt werden.
Das gibt der Pressemitteilung, in der „Ausländer“ fünf Mal und „Deutsche“ sieben Mal auftaucht, gleich eine ganz neue Tonalität. Etwa wenn es dort heißt, es „stürmten dann wohl wiederum mehrere Deutsche in das Wohnhaus der Ausländer“, verprügelten die Bewohner, von denen einige danach die Gruppe aus 30 Deutschen verfolgten.
Im Rahmen der „Zukunftswerkstatt“ der taz erscheint jeden Freitag statt der Neuland-Seite eine eigene Seite für Leipzig, die taz.leipzig: geplant, produziert und geschrieben von jungen Journalist*innen vor Ort.
Sie haben Anregungen, Kritik oder Wünsche an die Zukunftswerkstatt der taz? Schreiben Sie an: neuland@taz.de. Das Team der taz.leipzig erreichen sie unter leipzig@taz.de
An der Szene, die diese Formulierung zeichnet, rüttelt dann auch nicht mehr, dass die Polizei sich in der für ihre Neonazis bekannten Stadt noch nicht festlegen will, „ob die Gewalt durch eine rassistische bzw. extremistische Motivation begleitet wurde.“ Ob diese Form der Herkunftsnennung im Sinne meiner Nachbarin ist, wird sich wohl erst beim nächsten Balkongespräch herausstellen. Die Pressemitteilung hängt schon an meiner Pinnwand.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
BGH-Urteil gegen Querdenken-Richter
Richter hat sein Amt für Maskenverbot missbraucht
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Biden genehmigt Lieferung von Antipersonenminen
BSW stimmt in Sachsen für AfD-Antrag
Es wächst zusammen, was zusammengehört
Absagen vor Kunstsymposium
Logiken der Vermeidung