Kolume Das Schlagloch: Was ist nur aus dem Adel geworden?

Die Windsors vermarkten erfolgreich ihren Lifestyle. Die meisten anderen Adelsfamilien leben längst nicht mehr so mondän.

Von Corfe Castle im schönen Dorset ist nicht mehr viel übrig – die Ruine gehört dem National Trust. Bild: imago/Joana Kruse

Ein mittelständischer Betrieb namens Royal Family hat Nachwuchs erhalten – und ihn George getauft. Dieser Säugling wird dereinst ein Vermögen erben, das momentan rund 310 Millionen Pfund wert ist. Insgesamt wird das königliche Unternehmen sogar auf 1,8 Milliarden Pfund taxiert, weil es sich über mehrere Familienzweige erstreckt.

Es ist keine journalistische Marotte, die Royal Family als Betrieb anzusehen. Die Windsors selbst sprechen von ihrer Sippschaft als „Firma“. Ihr Angebot besteht aus einem einzigen Artikel: Sie vermarkten sich selbst. Ihr Leben, ihre Kleider, ihr Land. Zum Verkaufserfolg der Windsors gehört, dass sie einzigartig sind. Sie gehören zu den wenigen Adligen Großbritanniens, die noch wie „echte“ Adlige leben. Sie haben Schlösser und Lakaien, Kutschen und Pferde. Was die Frage aufwirft: Was ist aus dem restlichen Adel Englands geworden?

Das ist nicht leicht zu beantworten, weil recht unklar ist, wer zum britischen Adel zählt. Es gibt kein Adelsprädikat wie das deutsche „von“, und zudem gilt die strikte „Primogenitur“, sodass nur der erste Sohn das Vermögen und den Titel erbt, während die restlichen Nachkommen nur „Gentlemen“ oder „Ladies“ sind, die irgendwie zur Oberschicht gehören. So war der britische Premierminister Winston Churchill der Enkel eines Herzogs und der Sohn eines Lords – hatte aber selbst keinen erblichen Titel. Gleiches gilt für Bertrand Russell: Er war der Bruder eines Grafen und trotzdem nur ein quasi bürgerlicher Philosoph, bis sein Bruder starb und er den Titel übernahm.

Ein interessanter Fall ist auch David Cameron. Der britische Premier ist ein Cousin fünften Grades der Queen und hat zahlreiche adelige Vorfahren. Seine Frau Samantha ist die Tochter eines Baronets – also eines erblichen Ritters. Dennoch behauptete Cameron einst, er gehöre zur „Mittelschicht“, was die Engländer nur deshalb lächerlich fanden, weil sein Vermögen auf etwa 30 Millionen Pfund geschätzt wird. Aber dass Cameron ein „Commoner“ ist, gilt als selbstverständlich.

Erbfolge als Problem

Die männliche Primogenitur hatte rein ökonomische Gründe: Land und Vermögen sollten nicht zerstückelt werden. Allerdings konnte sie zur Falle werden, wenn ein männlicher Nachkomme ausblieb. Dieses Dilemma eignet sich natürlich bestens für Fernsehserien wie Downton Abbey, das auch im deutschen Fernsehen lief. Kurz zusammengefasst: Ein Graf hat zwar ein wunderschönes Schloss, aber nur drei Töchter, sodass Titel und Anwesen an einen entfernten Cousin zu fallen drohen, der als Anwalt in Manchester arbeitet. Also wird die älteste Tochter mit dem künftigen Erben verkuppelt – und diesem Spross der Mittelschicht beigebracht, wie sich ein Adeliger zu benehmen hat. Drei Staffeln gab es schon, eine vierte ist in Arbeit.

Downton Abbey spielt vor und nach dem Ersten Weltkrieg, was kein Zufall ist. Der Erste Weltkrieg hat den Niedergang des britischen Adels zwar nicht ausgelöst, dennoch markiert er eine Zäsur. Vorher war der britische Adel die mächtigste Kaste der Welt – danach schienen sich die Besitztümer der Lords in wenigen Jahren aufzulösen. Nur die Royal Family und einige große Adelsdynastien konnten ihren Status retten und in ein florierendes Gewerbe der Selbstvermarktung verwandeln.

Um also wieder auf die Ausgangsfrage zurückzukommen: Was ist aus dem britischen Adel geworden, was ist ihm passiert? Die einschlägige Untersuchung stammt von dem britischen Historiker David Cannadine, der unter anderem drei Aspekte hervorhebt, die viel über Demokratie und Kapitalismus verraten.

Die Idee des Earl of Derby

Erstens: Eine einzige Statistik hat die Entmachtung des Adels beschleunigt. Im Jahr 1871 kam der Earl of Derby auf die fatale Idee, das Vermögen der Peers untersuchen zu lassen. Die Lords im Oberhaus glaubten nämlich, sie seien ziemlich arm, und fanden es daher extrem ungerecht, dass sie ständig als leistungslose Klasse und als Ausbeuter beschimpft wurden.

Doch anders als der Earl of Derby erwartet hatte, stellte sich heraus, dass die reichsten 710 Adeligen ein Viertel der Nutzfläche in England und Wales besaßen; etwa 5.000 Familien kontrollierten sogar mehr als 75 Prozent von Großbritannien und Irland. Für die liberalen Adelskritiker war diese Statistik zu schön, um sie nicht zu nutzen: Die Erbschaftsteuern und die Einkommensteuern stiegen steil an – und waren oft nur zu bezahlen, indem Teile des Großgrundbesitzes verkauft wurden.

Seither wissen Superreiche, dass sie ihren Reichtum nur verteidigen können, wenn er geheim bleibt. Auch in Deutschland gibt es keine vernünftige Vermögensteuer, weil sie zu viel über die Vermögensverteilung verraten würde.

Geschäftsgrundlage entzogen

Zweitens: Die Globalisierung wird gern für ein völlig neues Phänomen gehalten, aber sie existierte spätestens ab dem Jahr 1870, als Dampfschiffe begannen, billiges Getreide von Amerika nach Europa zu bringen. Damit verlor der britische Adel seine Geschäftsgrundlage, denn die Landwirtschaft warf plötzlich viel geringere Renditen ab.

Drittens: Es wurde viel zu teuer, die vielen Diener zu entlohnen, die ein Schloss benötigt. Die Gehälter in der Industrie stiegen, weil dort die Produktivität zulegte – und natürlich wollte ein Butler mindestens so viel verdienen wie eine Hilfskraft am Fließband. Der adelige Lebensstil war nicht mehr finanzierbar und der Herrensitz eine Bürde. Es half auf Dauer auch nichts, dass mehr als hundert Lords amerikanische Erbinnen heirateten, um ihren Lebensstil zu retten. Die Paläste wurden abgerissen, in Schulen und Krankenhäuser verwandelt – oder dem National Trust übertragen.

Seither ist der britische Adel weniger sichtbar, aber er ist nicht verschwunden. Viele Familien blieben reich. Sie schichteten ihr Vermögen nur um – und spekulieren nun an der Börse. Auch David Cameron stammt aus einer Familie von Finanzinvestoren. Nichts könnte den bleibenden Einfluss der englischen Oberschicht besser illustrieren, als dass sie den Premier stellt.

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Der Kapitalismus fasziniert Ulrike schon seit der Schulzeit, als sie kurz vor dem Abitur in Gemeinschaftskunde mit dem Streit zwischen Angebots- und Nachfragetheorie konfrontiert wurde. Der weitere Weg wirkt nur von außen zufällig: Zunächst machte Ulrike eine Banklehre, absolvierte dann die Henri-Nannen-Schule für Journalismus, um anschließend an der FU Berlin Geschichte und Philosophie zu studieren. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin der Körber-Stiftung in Hamburg und Pressesprecherin der Hamburger Gleichstellungssenatorin Krista Sager (Grüne). Seit 2000 ist sie bei der taz und schreibt nebenher Bücher. Ihr neuester Bestseller heißt: "Das Ende des Kapitalismus. Warum Wachstum und Klimaschutz nicht vereinbar sind - und wie wir in Zukunft leben werden". Von ihr stammen auch die Bestseller „Hurra, wir dürfen zahlen. Der Selbstbetrug der Mittelschicht“ (Piper 2012), „Der Sieg des Kapitals. Wie der Reichtum in die Welt kam: Die Geschichte von Wachstum, Geld und Krisen“ (Piper 2015), "Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung. Die Krise der heutigen Ökonomie - oder was wir von Smith, Marx und Keynes lernen können" (Piper 2018) sowie "Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen. Warum es kein Wunder ist, dass wir reich geworden sind" (Piper 2022).

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