Koloniales Erbe in Namibia: Das Land der Ahnen
Vor über 100 Jahren nahmen deutsche Kolonialherren Einheimischen in Namibia den Boden weg. Bis heute spaltet die Landfrage die Gesellschaft.
A uf der Farm Düsternbrook steht in der Mittagshitze alles still, nur die Bettlaken auf der Wäscheleine bläht der Wind. Von Weitem sind Schreie von Pavianen zu hören. Das Farmhaus liegt auf einer Anhöhe am Rand des Khomashochlands, nordwestlich von Windhoek. Johann Vaatz, Ende 60, steht in T-Shirt und Khakishorts auf der Terrasse seiner Farm und blickt über das trockene Flussbett und die Savanne.
Vaatz lebt von Übernachtungstourismus und Safaris. Nach Düsternbrook kommen Gäste aus Europa, um Zebras, Giraffen und Leoparden zu sehen. Oder um Tiere zu schießen, ein Pavian kostet 50 Euro, eine Kudu-Antilope 1.200. Die Trophäenjagd macht aber nur einen Bruchteil des Geschäfts aus. Zum Konzept der Gästefarm gehört es, dass die Touristen den Farmalltag in Namibia erleben und beim Abendessen den Geschichten des Farmers über die Dürre und die Weite des Landes zuhören. Und Johann Vaatz erzählt gern.
An der Rezeption der Gästefarm steht eine Trinkgeldkasse. Alles, was die Gäste dort hineinwerfen, verteilt Vaatz an seine 18 Angestellten. Am meisten bekommen die Frauen, die in der Wäscherei oder anderswo arbeiten, wo die Touristen sie nicht sehen. Am wenigsten bekommen die Guides, denen die Touristen nach der Safari ohnehin einen Zehner in die Hand drücken. „100 Prozent Gerechtigkeit schafft man nie, aber ich versuche das auszugleichen“, sagt Vaatz. Im Kleinen funktioniert das.
Im Großen ringt Namibia mit der Frage, was Gerechtigkeit heißt – und wie man historisches Unrecht wiedergutmachen kann. Konkret geht es darum, wie man enteignetes Land gerecht umverteilt und Menschen für ihren Verlust entschädigt. Knapp 30 Jahre nach der Unabhängigkeit und mehr als 100 Jahre nach der Kolonialzeit, in der die Kolonialherren sich Land aneigneten, auf dem seit Jahrhunderten Menschen ohne Eigentumsurkunde gelebt hatten, hat die Landfrage nichts von ihrer Sprengkraft verloren. Kann es eine Lösung für ein Unrecht geben, das so lang zurückliegt?
Als Namibia 1990 nach 30 Jahren des deutschen Kolonialismus und 75 Jahren südafrikanischen Apartheidregimes unabhängig wurde, beschloss die Swapo-Regierung, das von Weißen enteignete Land mit einer Landreform an schwarze Namibier umzuverteilen. Doch die Landreform ging nur sehr langsam voran: Laut einer Erhebung der Namibia Statistics Agency von 2018 sind bis heute 70 Prozent des kommerziellen Farmlands im Besitz weißer Farmer, die nur eine kleine Minderheit der namibischen Bevölkerung ausmachen.
Von seinem Vater hat Johann Vaatz gelernt, dass man im Leben alles verlieren kann – sein Land, sein Zuhause, alles, was man sich aufgebaut hat. Als seine Eltern in den 1940er Jahren eine Farm in Namibia kauften, hatte seine Familie schon eine Landreform hinter sich. Bei der Oktoberrevolution 1917 enteigneten Kommunisten die Familie seines Vaters – Schwarzmeerdeutsche, die seit mehreren Generationen in der Ukraine Landwirtschaft betrieben hatten. Der Grundbesitz wurde in Kolchosen aufgeteilt. Es kam es zu einer Hungersnot, bei der Millionen Menschen sterben.
Die Farm Düsternbrook, rund 45 Autominuten von Windhoek entfernt, kauften Johann Vaatz’ Eltern während des Zweiten Weltkriegs. Als Sicherheit. Sie hatten Angst, die südafrikanische Verwaltung könnte ihr Geld auf der Bank einfrieren. Vaatz’ Vater wurde vom südafrikanischen Regime wie viele andere deutschstämmige Namibier interniert und kehrte erst nach sechs Jahren aus dem Lager zurück. In den 1960er Jahren bauten sie auf Düsternbrook die erste Gäste- und Jagdfarm Namibias auf. Johann Vaatz wurde hier geboren und ist während der Apartheid mit den Kindern der Farmarbeiter aufgewachsen. „Es war mehr wie eine Großfamilie“, sagt er. „Nur haben die Arbeiter eben da oben gewohnt und wir hier.“
Fast sein gesamtes Leben hat er auf Düsternbrook verbracht, und auf einer Farm heißt das: sieben Tage die Woche schuften, vom Morgengrauen bis nach Sonnenuntergang, die Wasserstellen kontrollieren, auf Regen hoffen.
Im Oktober 2018 kündigte der namibische Präsident Hage Geingob an, vermehrt weiße Landbesitzer zu enteignen. Die namibische Verfassung ermöglicht Enteignungen mit gerechter Entschädigung. Am 27. November werden der Präsident und das Parlament neu gewählt, und vor diesen Wahlen stellen einige mit Vehemenz die Frage, ob nun nicht zurückgeholt werden muss, was zu Kolonialzeiten gestohlen wurde. Notfalls ohne Entschädigung.
Vor einer Enteignung habe er keine Angst, sagt Vaatz. „Ich bin namibischer Bürger, warum sollte ich Angst haben? Ich gehöre zu diesem Land. Warum sollte ich enteignet werden? Nur weil ich weiß bin? Das wäre ja rassistisch.“ Er halte grundsätzlich nicht viel von Umverteilung. „Mir fehlen da die Erfolgsgeschichten. Deswegen frage ich mich: Was wird gewonnen? Befriedigt man nur eine ideologische Gerechtigkeit, oder ist das Endziel, dass es der Bevölkerung besser geht?“ Auf die Frage, was für ihn Gerechtigkeit bedeute, denkt er einen Moment nach. Dann sagt er: „Die Gesetze eines Landes müssen gerecht sein, aber man kann darüber hinaus nicht eine künstliche Gerechtigkeit für eine Kolonialzeit schaffen, die 100 Jahre her ist.“
Johann Vaatz’ Familie hatte Düsternbrook erst nach der Kolonialzeit von einem deutschen Kapitänleutnant gekauft. Der wiederum hatte das Land 1908 von der deutschen Kolonialverwaltung erworben. Die Farm liegt im Ahnenland der Ovaherero und Damara, das Land hatte sich wohl die deutsche Kolonialverwaltung angeeignet.
Im Nationalarchiv in Windhoek liegen die Dokumente zum Landerwerb, jede Farm hat hier ihre eigene Akte. Der Akte Düsternbrook sind ein Kaufvertrag mit Siegel und Stempel und eine Skizze des Grundstücks beigeheftet. Im Kaufvertrag heißt es: „Das Kaiserliche Distriktsamt Okahandja verkauft und übergibt vorbehaltlich der Genehmigung des Kaiserlichen Gouvernements an den Farmer Robert Matthiessen die auf anliegender Skizze näher bezeichnete (…) Farm mit einem Flächeninhalt von ungefähr 5.000 Hektar.“ Der Kaufpreis betrug damals 1 Mark und 20 Pfennig pro Hektar, insgesamt 6.000 Mark.
Zwischen den blauen Aktendeckeln findet sich auch ein mit Schreibmaschine getippter Brief von 1921, in dem der Kapitänleutnant den Kaiserlichen Gouverneur um Landzukauf bittet. Da seine Farm ausschließlich aus bergigem Gelände bestehe, sei Landwirtschaft nur mit zusätzlichem Farmland wirtschaftlich. „Ich empfinde jedenfalls ein dringendes Ausdehnungsbedürfnis. Diese Ausdehnung ist nicht Marotte, sondern Lebensfrage für mich und meine Familie!“
Die Geschichte Namibias ist geprägt von Verdrängung und Aneignung. Als 1884 die Deutschen kamen und die Kolonie Deutsch-Südwestafrika gründeten, zogen sie als Erstes Grenzen. Zuvor hatte es keinen Privatbesitz gegeben, Land war Ahnenland, auf dem die ethnischen Gruppen kollektiv lebten. Schon vor der Kolonialzeit hatten die Gruppen der Damara und San Land verloren, weil sie von den Ovaherero verdrängt worden waren. Doch die Grenzen der Gebiete waren durchlässig, weil die nomadischen Gruppen mit dem Regen zogen. Nun wurden die Ovaherero, Nama, Damara und San immer weiter verdrängt.
Mutjinde Katjiua pinnt die Nachdrucke zweier alter Landkarten an die Wand seines Unibüros. Der Professor in kariertem Kurzarmhemd mit Brille und Schnurrbart ist Ovaherero. Er leitet die Abteilung für Land- und Eigentumsstudien an der Namibia University for Science and Technology und ist Generalsekretär der Ovaherero Traditional Authority. „Das Ahnenland zu verlieren bedeutete für die enteigneten Gruppen, dass sie die Verbindung zu ihren Vorfahren verloren haben“, sagt er. „Mit der Landenteignung haben sie ihr Vieh und die Rechte an Ressourcen wie Bergbau und Fischereigründen verloren, was ihre Armut bis heute fortsetzt.“
Auf einer der beiden Karten, der „Völkerkarte von Deutsch-Südwestafrika vor den Aufständen 1904–1905“, sind die ehemaligen Gebiete der verschiedenen ethnischen Gruppen eingezeichnet. Mit dieser Landkarte lässt sich erahnen, wie es in Namibia aussah, bevor die deutsche Kolonialverwaltung nach dem Genozid neue Grenzen zog.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Mit dem Aufstand der Ovaherero 1904, bei dem um die hundert weiße Siedler getötet wurden, und dem Aufstand der Nama 1905 begann ihr Kampf um das verlorene Land. Der Vernichtungsbefehl des Generalleutnants Lothar von Trotha war der Ausgangspunkt für das, was heute als der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts gilt. Schätzungsweise 80.000 Ovaherero und 20.000 Nama starben bis 1908 in der Wüste oder in Konzentrationslagern.
Diejenigen, die überlebten, wurden per Anordnung der Kolonialverwaltung enteignet. Diese parzellierte das Land und verkaufte es an deutsche Siedler. Die Enteignungen gaben nicht nur den weißen Siedlern Land, sie zwangen auch die schwarzen Namibier aus der Selbstständigkeit in die Lohnarbeit. Und sie schufen eine soziale Struktur, die sich bis heute kaum geändert hat. Ovaherero und Nama sind im heutigen Namibia marginalisierte Minderheiten.
In den 1960er Jahren wurden schwarze Namibier ein weiteres Mal von ihren Wohnorten vertrieben. Um die schwarze Bevölkerungsmehrheit zu spalten und die weiße Vormachtstellung zu sichern, gründete die südafrikanische Verwaltung für jede ethnische Gruppe eigene Homelands. Dieses Mal betraf die Vertreibung alle schwarzen Namibier.
Für Mutjinde Katjiua ist die Landfrage weder kompliziert noch sensibel: Die enteigneten Bevölkerungsgruppen der Ovaherero, Nama, Damara und San müssen bei der Umverteilung Vorrang haben. Mit Nachdruck zeichnet er auf einem Blatt Linien, um das Gesagte zu veranschaulichen. „Die Mehrheit in der Regierung ist vom Genozid und der Enteignung nicht betroffen“, sagt er. Deshalb habe die Regierung bisher nicht anerkannt, dass es einen Völkermord und Enteignungen gegeben hat.
Mutjinde Katjiua
Seit 2015 verhandeln die deutsche und die namibische Regierung über die Aufarbeitung des Genozids. Weil sie sich von den Verhandlungen ausgeschlossen und von der eigenen Regierung nicht ausreichend vertreten fühlten, haben Opferverbände im Januar 2017 in New York eine Sammelklage gegen Deutschland eingereicht. Sie fordern die offizielle Anerkennung des Geschehens als Genozid, eine Entschuldigung und Wiedergutmachung. Die Klage liegt in New York inzwischen beim Berufungsgericht.
Nach jahrzehntelangem Kampf schwindet unter den Nachkommen der Ovaherero und Nama aber die Geduld. „Wir sind sehr friedlich und geduldig, aber wenn alle friedlichen Wege vergebens sind, werden wir zu unserem Land zurückkehren“, sagt Mutjinde Katjiua ruhig. Es klingt nüchtern wie eine Feststellung. „Wenn alle rechtlichen und diplomatischen Prozesse scheitern, werden wir auf Selbstbefreiung zurückgreifen, und die deutschen Farmer, die auf unserem Land sitzen, werden packen und gehen müssen. Ist es das, was wir wollen?“
Auf der ersten nationalen Landkonferenz 1991 wurde eine Weiche gestellt, was zur Frustration vieler Ovaherero und Nama beitrug, die darauf hofften, dass das historische Unrecht nun wiedergutgemacht würde. In der Resolution hieß es, Ansprüche auf Ahnenland könnten nicht berücksichtigt werden, da aus überlappenden Gebietsansprüchen verschiedener ethnischer Gruppen zu viele Konflikte entstünden. Das traf vor allem die Bevölkerungsgruppen, die am stärksten unter den Enteignungen gelitten hatten.
Denn nicht alle ethnischen Gruppen in Namibia haben in der Kolonialzeit Land verloren. Die Oshivambo sprechenden Gruppen aus dem Norden Namibias, die heute die Mehrheit der Bevölkerung stellen, waren nicht von den Enteignungen betroffen. 1991 kurz nach der Unabhängigkeit die Ansprüche auf das Ahnenland nicht zu berücksichtigen war aber ein politischer Beschluss: Die neu gegründete Republik konnte es sich nach Jahrzehnten der Segregation nicht leisten, auf Partikularinteressen einzugehen, die eine noch zerbrechliche Einheit hätten gefährden können.
Dass das Land ihrer Ahnen dadurch auch an schwarze Namibier umverteilt wurde, die kein Land verloren hatten, war für die Ovaherero und Nama eine weitere Enttäuschung. Viele Farmen gingen außerdem an die schwarze Elite, die sich seit der Unabhängigkeit herausgebildet hatte. Deshalb ist die Landreform inzwischen auch zu einer Klassenfrage geworden.
Es dauerte 27 Jahre bis zu einer zweiten nationalen Landkonferenz. Im Oktober 2018 beschäftigte sich die Regierung auf Druck der betroffenen Gruppen und zivilgesellschaftlichen Organisationen zum ersten Mal auch mit der Frage des Ahnenlands.
Uhuru Dempers sitzt in der Deja Vu Cafeteria an der Independence Avenue. Die Kantine im Zentrum Windhoeks ist um die Mittagszeit belebt, hier treffen sich viele Angestellte in ihrer Pause. Immer wieder grüßt jemand den Landaktivisten im Vorbeigehen. Er ist gut vernetzt, seit den frühen Neunzigern beschäftigt er sich mit der Landreform.
Die letzten Monate, sagt Dempers, seien herausfordernd gewesen. Er meint seine Arbeit in einer 15-köpfigen Kommission: Die Ancestral Land Commission soll nichts Geringeres leisten, als die kolonial gezogenen Grenzen innerhalb Namibias neu zu vermessen und eine Kartografie des vorkolonialen Ahnenlands zu entwerfen. Die Kommission wurde vom namibischen Präsidenten eingesetzt, um ein Jahr lang zu untersuchen, wo schwarze Namibier im Kolonialismus Ahnenland verloren haben und welche Ansprüche sich daraus ergeben.
Uhuru Dempers sagt gern: „Wir als Zivilgesellschaft“, wenn er von seiner Arbeit spricht. Er ist ein pragmatischer Idealist, bereit, Kompromisse auszuhandeln. Zwei Jahre lang ist er vor der zweiten Landkonferenz durchs Land gefahren, hat Menschen zur Landreform befragt und nachts im Auto geschlafen.
Das hat ihm Respekt verschafft. Und es hat dazu geführt, dass Dempers zwischen die Fronten geraten ist. Denn manche traditionellen Autoritäten der Ovaherero und Nama boykottierten die zweite Landkonferenz, weil sie sich nicht einbezogen fühlten. Sie kritisierten die Ancestral Land Commission als Wahlkampfgimmick. „Ich wurde sogar Verräter genannt“, sagt Dempers, dessen eigene Vorfahren Ovaherero, Nama und Damara sind. Es ist ihm anzusehen, dass ihn das schmerzt. „Ich sehe die Arbeit in der Kommission nur als eine weitere Seite des Kampfes, als eine weitere Strategie, um das zu erreichen, wofür wir gekämpft haben.“
Zwei Monate ist Dempers dann auch mit der Kommission durch Namibia gereist und hat auf öffentlichen Sitzungen Menschen zugehört, deren Vorfahren im Kolonialismus enteignet wurden. Die Nachfrage sei überwältigend gewesen. „Es gab Menschen, die uns gesagt haben, sie hätten ihr ganzes Leben auf diese Kommission gewartet.“ Dass sich die Regierung damit auseinandersetzt, wie Menschen für den Verlust ihres Ahnenlandes entschädigt werden, hält Dempers für überfällig. „Es ist das erste Mal, dass wir Namibier so über unsere Geschichte und den Verlust unseres Landes sprechen.“
Dieses Sprechen hat auch alte Wunden aufgerissen, die nie richtig verheilt sind. Öfter mussten die Sitzungen unterbrochen werden, weil die Emotionen hochkochten. Manche kamen nur, um einmal öffentlich ihre Geschichte erzählen zu können. Sie berichteten, ihr Urgroßvater sei auf der Farm, auf der er arbeitete, vom Farmbesitzer umgebracht worden, andere, ihre Großmutter sei von Soldaten vergewaltigt worden. Eine alte Frau sagte zu Dempers: „Ich bin so froh, dass ich darüber sprechen konnte, ich habe das so lang mit mir herumgetragen.“
Erika von Wietersheim
Die Journalistin Erika von Wietersheim ist bereits 2008 der Frage nachgegangen, warum die Landreform für viele Namibier ein so emotionales Thema ist. Für die Recherche zu ihrem Buch „This Is My Land“ reiste sie 5.000 Kilometer durchs Land und interviewte weiße und schwarze Farmer, Farmarbeiter und Landminister. Als Treffpunkt hat von Wietersheim das Café im Hinterhof des Goethe-Instituts in Windhoek vorgeschlagen, das Hupen der allgegenwärtigen Sammeltaxis ist hier nur schwach zu hören. „In Namibia Farmer zu sein, egal ob weiß oder schwarz, ist ein hartes Geschäft“, sagt sie. „Man muss so viel aufbauen und mit Mühe erhalten, seien es Zäune, Wasserstellen oder Wasserpumpen, und immer wieder Dürreperioden überstehen mit neuen Ideen und finanziellen Opfern. Deshalb ist jeder Farmer, der länger auf einer Farm lebt, sehr eng mit seinem Land verbunden.“
Auch diejenigen, deren Vorfahren Farmen auf dem enteigneten Land der Ovaherero und Nama gekauft haben, betrachten das Land nach vier Generationen längst als eine Art Ahnenland.
Erika von Wietersheim weiß, wovon sie spricht: 20 Jahre lebte und arbeitete sie selbst auf einer Farm im Süden Namibias. Als sie nach dem Studium mit ihrem Mann auf die Farm der Schwiegereltern zog, lebte sie zum ersten Mal mit schwarzen Familien zusammen.
„Wir als weiße Namibier hatten zuvor kaum Kontakt mit Schwarzen, außer mit unseren Hausangestellten.“ Auch von den auf der Farm lebenden Nama waren damals viele bei ihr angestellt, aber auf einer Farm teilt man ganz anders das gesamte Leben: „Krankheit, Tod, Geburt, die tägliche Arbeit und all die Katastrophen, die immer wieder passieren.“
Sie gründet eine Farmschule für die Kinder der Farmarbeiter. Als sie den Unterricht für die achte Klasse vorbereitet, stößt sie auf ihre eigene Geschichte. „In meiner Kindheit haben wir kaum etwas über den Kolonialismus gehört, und wenn, dann Horrorgeschichten von der Ermordung weißer Farmer durch die Herero“, erzählt von Wietersheim.
Als sie den Unterricht vorbereitete, las sie entsetzt, was in Namibia während der deutschen Kolonialzeit geschehen war: „Vor allem, dass es auf der Haifischinsel, wo wir als Kinder so ahnungslos gespielt haben, ein Konzentrationslager gab, in dem Hunderte von Menschen an Hunger, Schwäche und Auszehrung gestorben sind.“ Es gab kein Geheimnis um diese Insel, sagt von Wietersheim mit Tränen in den Augen. „Es war wie ausgelöscht aus dem Gedächtnis der Menschen, zumindest der Weißen.“
Den Nachfahren der Überlebenden war die Haifischinsel, eine 30 Hektar große Halbinsel im Süden Namibias, dagegen ins Gedächtnis gebrannt. Sima Luipert, stellvertretende Vorsitzende der Nama Traditional Leaders Association, erinnert sich, wie ihre Großmutter ihr als Kind Geschichten erzählt hat. „Als ich als junges Mädchen in die Stadt geschickt wurde, um Brot oder Salz zu kaufen, haben die weißen Kinder Steine nach mir geworfen“, sagt sie. Die Großmutter warnte sie: „Halt dich von diesen Kindern fern, oder du landest auf der Insel.“
Die Folgen des Völkermords sind bis heute zu spüren
Erst später begreift Sima Luipert, dass ihre Urgroßmutter eine Überlebende des Völkermords war und von ihrem Ahnenland vertrieben wurde. „Meine Urgroßmutter war eine Gefangene im Konzentrationslager auf der Haifischinsel.“ Drei Generationen später wuchs Sima Luipert unter sehr bescheidenen Bedingungen in einem Dorf auf, das Teil eines Reservats war. Für die Aktivistin sind Völkermord und Enteignung nichts, was vor 100 Jahren passiert ist, sondern etwas, was bis heute zu spüren ist.
Luipert kämpft für Wiedergutmachung und Versöhnung. Die deutschstämmigen Namibier, sagt sie, müssten anfangen, das Ausmaß des Schadens zu begreifen, der angerichtet worden sei: „Wir haben die Souveränität verloren, wir haben unsere Lebensgrundlagen verloren, und das ist uns nie zurückgegeben worden. Wir bleiben am Rande der namibischen Gesellschaft.“ Sie fügt hinzu: „Wir müssen einsehen, dass es keine Heilung geben kann, wenn wir die Landfrage nicht lösen.“
Ende November wird Uhuru Dempers dem Präsidenten den Bericht der Kommission mit Empfehlungen zur Ahnenlandfrage überreichen. Die Erwartungen derjenigen, die zu den öffentlichen Sitzungen der Kommission kamen, sind hoch. Die Aktivisten erwarten dagegen nicht so viel. Sie haben schon viele Kommissionen kommen und gehen sehen, ohne dass sich etwas verändert hätte.
Dempers hofft, dass der Bericht veröffentlicht wird. Dass sich etwas ändern muss – darin sind sich schließlich die meisten einig. Was die Menschen spaltet, ist vor allem die Frage, wem das Land heute gehört und wie eine gerechte Umverteilung aussehen soll. Das karge, staubige Land ist nicht nur Besitz. Für viele Menschen ist es der Ort, an dem die Ahnen begraben liegen, ein Raum der Zugehörigkeit – und ein Sehnsuchtsort.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen