Körperarbeit und Corona: Im Angesicht des Kühlschranks
Turnen begann als Menschenoptimierung für die Nation. Heute trainiert man für den Kapitalismus – oder man geht einfach in die Küche und frisst.
E s sind fette Tage, für alle Menschen, die sich ins Homeoffice zurückgezogen haben. Der Weg zum Kühlschrank ist nur wenige Meter lang. Der immer passende Gruß für alle Heimarbeiter ist ohnehin schon immer „Mahlzeit!“ gewesen. Aufpassen solle man auf sich, raten etliche Leute und Experten. Sie schicken Bilder von sich beim Turnen auf dem Wohnzimmerboden über die sozialen Netzwerke in die Welt.
Wer das sieht, der bekommt spätestens beim achten Honigbrot, das er sich mal eben zwischendurch schmiert, ein schlechtes Gewissen und rollt die Yogamatte aus, die er sich gekauft hat, als er aus Angst vor einem sich abzeichnenden Burn-out beschlossen hat, ein wenig achtsamer mit sich selbst zu sein. Den Beschluss, endlich das Leben umzustellen, mag man vielleicht nicht wirklich umgesetzt haben, die Corona-Turnstunde auf dem heimischen Linoleum wird einen indes nochmal darin bestärken, dass er grundsätzlich richtig war.
„Change“ heißt das Zauberwort der Selbstoptimierer, die in Fitnessstudios, beim Yoga, einfach nur beim Joggen, beim Sich-Ernähren oder irgendeinem Trend wie Crossfit an ihren Bodies schrauben. „Aber der Change! kommt nur, wenn man nicht locker lässt. Ein paar Wochen laufen? Ein paar Atemübungen? Ein paar Gewichte stemmen? Mal das Weißmehl weglassen? Im Urlaub einfach mal loslassen? So wird das nichts.“ Mit diesem Worten beschreibt Tim Bindel die Probleme, die sich stellen, wenn man seinen Körper optimieren will.
Er schreibt dies in einer Aufsatzsammlung namens „Texte zur Turnkunst“, die jüngst im Verbrecher Verlag erschienen ist. Der Professor für Sportpädagogik zieht dabei eine Linie von der Wehrertüchtigung der Jünger von Turnvater Jahn bis zu den Achtsamkeits- und Sixpack-Apologeten der Gegenwart. Auch denen nämlich gehe es um Ertüchtigung. „Viele Menschen turnen wieder“, schreibt er, „sie möchten bereit sein für den Kampf, weniger den nationalen als viel mehr den kapitalen.“
Geschichte der Achtsamkeit
Wie lange hierzulande schon gymnastische Übungen im privaten Studio angeboten wurden, erfährt, wer sich mit dem Leben von Carola Joseph beschäftigt. Das hat Christoph Ribbat in seinem neuen Buch „Die Atemlehrerin“ (Suhrkamp) ausführlich getan. Carola Joseph wird in den 1920er Jahren Gymnastiklehrerin in Berlin. Es ist dies eine Zeit, in der verschiedene Reformbewegungen durch Turnen oder Tanzen neue Reize setzen wollen. Nicht wenige dieser neuen Gymnasten finden, dass ihre Turnkunst sich ganz gut im nationalsozialistischen Bewegungskult machen würde, und lassen sich einreihen.
Anderen widerstrebt das, und Carola Joseph hat ohnehin keine Wahl. Sie wird zum jüdischen Flüchtling, und das Leben verschlägt die nun als Carola Spitz Verheiratete nach New York, wo sie sich Carola Spread nennt und am Central Park ein „Studio of Physical Re-Education“ betreibt. Bis sie 97 ist, wird sie Menschen das Atmen lehren, sich kleinen Ruhm verdienen, aber nie berühmt werden. Wer das großartige Buch über ein Leben, das nicht wirklich groß war, liest, wünscht sich, mit Carola Spread geschnauft zu haben. Einmal nur. Es muss ja nicht immer gleich der große Change sein.
Darauf ein neuntes Honigbrot im Homeoffice!
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