Kochende Seniorinnen auf YouTube: Oma ist auch Online die Beste
Seniorinnen aus aller Welt präsentieren ihre Kochkünste in Videoclips. Dabei wird eine Tradition beschworen, die es so nie gegeben hat.
Stolz schlägt Filomena zwei Eier auf, von ihren eigenen Hühnern kommen die. Sie verrührt die Eier, mit der Hand natürlich, und arbeitet das zu einer Art Vulkan geformte Mehl langsam drum herum ein. Ein Schuss Olivenöl dazu, ein paar Stunden ruhen lassen – dann kommt der riesige Teigstab zum Einsatz, matterello genannt, mit dem Filomena den Teig zu einem großen Kreis ausrollt.
Die 90-jährige Frau aus Bagno di Romagna, im Appenin an der südlichsten Spitze der Emilia-Romagna gelegen, kocht basotti: dünne Nudeln, die in ihrer Heimatregion traditionell zu Ostern gegessen werden.
Wie es sich für eine moderne Oma gehört, bedient sie sich dabei auch technischer Hilfsmittel, um nicht alles, alles, alles mit der Hand machen zu müssen: einer elektrischen Parmesanreibe, außerdem eines Föns, mit dem ihre Tochter den ausgerollten Teig trocknet. Dann schneidet Filomena ihn mit einem Messer in drei Millimeter breite Streifen.
Ich habe Filomena um Himmels willen nicht besucht, ja nicht einmal dieselbe Funkfrequenz mit ihr geteilt. Sie ist eine der mehreren Dutzend „Pasta Grannies“, die auf Youtube ihre Rezepte vorstellen. Gegründet hat den Kanal mit heute fast einer halben Million Abonnent*innen vor fünf Jahren die britische Gourmet-Journalistin Vicky Bennison, die dafür quer durch Italien von Großmutter zu Großmutter tourt, beziehungsweise aktuell gesprochen: getourt ist.
Hat sie nie mit ihrem Dasein gehadert?
Viele müssen dieser Tage zu Hause bleiben. Was mit der Zeit dort anfangen? Für die einen Utopie, für die anderen komprimierter ausgedehnter Horror. Langeweile droht, schlimmer noch, Depressionen und Angstzustände (psychische Schäden der Isolation gegen die körperlichen Gefahren auszuspielen, denen etwa Kassen- oder Pflegepersonal ausgesetzt ist, verstärkt diese Schäden eher noch, behaftet sie mit Scham).
Kochen kann, so banal es klingt, den Zuhauseverweilenden Abhilfe schaffen. Einen ganzen Tag strukturieren. Und natürlich: den Magen füllen, im besten Fall noch mit ganz und gar Unindustriefraßigem. Aber irgendwann ist dann auch mal alles durchprobiert, was man schon immer probieren wollte. Die Milch kocht über, der Käse brennt an, frustriert ist der Mensch. Ständig mittel- bis vollaufwendige Mahlzeiten zuzubereiten strengt an.
Also auf nach Youtube, dort gibt es schließlich alles. Und zwar nur einen Klick entfernt. Wer nicht kochen mag, kann anderen Menschen beim Kochen zuschauen – und, je nach Lust und Laune, etwas lernen oder nichts lernen.
So wie im echten Leben stehen auch hier die Omas in der Küche hoch im Kurs. Die Sehnsucht nach dem Natürlichen, Unverfälschten, nach dem Original: Wer könnte sie besser befriedigen als die, die ohnehin schon ihr ganzes Leben so gekocht zu haben scheinen? Da steckt Wahres drin, aber auch Falsches.
Gehört denn zur beschworenen Tradition nicht auch, Hausarbeit durch übertriebenes Lob („Oma ist die Beste“) symbolisch zu entlohnen, statt sie mit Geld zu bezahlen? Wenn Filomena, wie in dem Video über ihre Rote-Bete-Ravioli gesagt wird, täglich für ihre Enkel Pasta kocht – ist sie dann wirklich in Rente? Macht ihr das Spaß? Hat sie nie mit ihrem Dasein gehadert?
Kategorie „Kochende Omas“
Insofern zeugt die Erfindung einer multimedialen Kategorie „Kochende Omas“, an der dieser Text ja auch partizipiert, nicht nur von der Bejubelung und Ausbeutung einer Tradition, die es in der Eindeutigkeit, wie die Heutigen sie sich ausmalen, nie gegeben hat. Wenn die Omas ins Internet gehen, heißt das für die Enkel nämlich umgekehrt: So, wir haben euch gezeigt, wie es geht. Und nun ab an den Herd mit euch! Andate!
Zum Selber-Oma-Werden gehören Disziplin, Pragmatismus und eine gewisse Unerschrockenheit, die „Pasta Granny“ Ida aus Rom wohl am spektakulärsten verkörpert: Damit sie „extra crispy“ werden, besprenkelt sie ihre Artischocken vor dem Frittieren mit Wasser – und löst so absichtlich einen kleinen Fettbrand in ihrer Küche aus. „Don’t try this at home“, sah sich Vicky Bennison zu ergänzen genötigt. Aber auch: „Grannies know best“.
Wenn irgendeine Oma Zeit hatte, Wissen anzuhäufen, dann Karre Mastanamma. 107 Jahre alt wurde sie, starb im Dezember 2018 in einem kleinen indischen Dorf im Bezirk Guntur. Die letzten zwei Jahre ihres langen Lebens nutzte sie, um ihr Wissen auf dem Kanal „Country Foods“ weiterzugeben.
Ihr Enkel filmte sie beim Kochen diverser Rezepte im country style: Hühnchencurry, Auberginencurry, Kartoffelcurry, Schafkopf, gebratene Fische, Garnelen, selbstgemachtes Brot, Innereien, Elefantenfüße, Krabben, Hühner-, Wachtel- und Emu-Eier-Currys, aber auch Maggi-Nudeln, „KFC Chicken“ oder Pizza.
Mastanamma wohnte in einer Strohhütte. Sie kochte im Sitzen, auf dem Boden, über dem offenen Feuer. Das dauert: Die Videos sind zehn, manchmal zwanzig Minuten lang und entfalten, mit fast immer der gleichen meditativen Musik unterlegt, eine unwiderstehliche Sogwirkung. Auch der Ablauf ist meist ähnlich: Ein Tier, das man am Anfang noch in lebendigem Zustand zu sehen bekommt, oder ein Gemüse wird gesäubert und zerteilt, manchmal auch schon gewürzt und durchgemantscht, mit der Hand, was auf dem Kopfhörer im Trommelfell prickelt. Öl aus einer Plastiktrinkflasche wird in einer Metallpfanne über dem Feuer erhitzt, darin Zwiebeln, Tomaten und grüne Chilis angebraten, erneut gewürzt. Dann bleiben noch ein paar Minuten, in denen man Mastanamma beim Rühren und Erzählen aus ihrem Leben zuschauen kann.
Überkommene Herdbindung
Die Übersetzung ist mehr als unzuverlässig und bleibt meist völlig aus. Aus anderthalb Minuten intensiven Gesprächs mit der Enkelin wird dann zum Beispiel „In the legs is the strength to walk“ extrahiert, aber auch damit kann man ja schon einiges anfangen. Manchmal kommt auch der Eismann, denn Mastanamma lutschte gerne Eis, wobei sie ihre Lippen dann mit nach innen sog.
Vermutlich aus dem Süden Chinas sendet eine weitere Oma auf dem Kanal letscookchinesefood.com, nähere Angaben fehlen, aber viele ihrer Rezepte tragen die Ergänzung „Hongkong Style“. Auf sie stieß ich nach gefühlt 30 Stunden Mastanamma-Bingewatching.
Nicht nur einen Ort, sondern auch einen Namen sucht man vergeblich, und da die Kamera die meiste Zeit über auf Wok und Schneidebrett gerichtet ist, sieht man auch ihr Gesicht nur selten. Meistens dann, wenn sie zufrieden das fertige Gericht präsentiert: gebratene Nudeln, geräucherter Fisch, Schweinemagen, Bohnenpfannkuchen.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Mehr als 200 Videos hat sie hochgeladen und fügt jeden Monat zuverlässig mehrere hinzu. War das Format am Anfang noch eher schlicht gestaltet, treten mit der Zeit ihre Katzen immer mehr in den Vordergrund. Am Bildrand lecken sie sich, und wenn in der Mitte der Videos eine verzerrte Computerstimme „Buy me a coffee“ trällert, während ein Paypal-Link eingeblendet wird, dann sind die Katzen größer als die Oma, sodass man sich fragt, wer den zu spendenden Kaffee denn eigentlich trinken soll.
Wenn Großmütter also nun auf Youtube Geld verdienen, geraten in der erzwungenen Häuslichkeit alle anderen selbst ein bisschen zu Großmüttern: auch die, die die überkommene Herdbindung glücklich abschütteln konnten oder nie von ihr betroffen waren. Zu ahnen, wie die Leitomas den Zeiten trotzten, kann da durchaus eine beruhigende Wirkung entfalten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Haftbefehl gegen Benjamin Netanjahu
Er wird nicht mehr kommen
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?