Kobane-Prozess in der Türkei: Tumulte zum Auftakt
In Ankara hat ein Mammutverfahren zu tödlichen Protesten gegen den IS-Angriff auf Kobane 2014 begonnen. Die HDP spricht von einem „Racheprozess“.
Ein großes Polizeiaufgebot vor dem Gerichtssaal behinderte am Morgen vor Prozessbeginn eine Stellungnahme des aktuellen Co-Vorsitzenden der HDP, Mithat Sancar. Journalisten wurden gehindert, Sancar zu filmen, der sagte: „Dieser Prozess ist ein Racheprozess der Regierung, die nicht verdaut hat, dass der IS 2014 in Kobane von den Kurden besiegt werden konnte“.
Der Prozess soll die Ereignisse um die türkisch-syrische Grenzstadt Kobane aufarbeiten, die im Winter 2014/15 vom IS belagert wurde. Weil die türkische Armee damals die Kurden aus der Türkei daran hinderte, ihren Verwandten jenseits der Grenze zu Hilfe zu kommen, rief Demirtaş zu Protestaktionen auf.
Im Rahmen dieser Proteste kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den Demonstrierenden, der Polizei, der Gendarmerie und IS-nahen Organisationen, die nach Angaben der HDP zu 43 Toten führten. Die Staatsanwaltschaft spricht von 37 Toten.
Diese Toten, die nach Angaben der HDP überwiegend Anhänger ihrer Partei waren, werden jetzt der damaligen HDP-Führung und der Partei als Ganzes zur Last gelegt. Insgesamt sind 108 Menschen wegen „Zerstörung der Einheit des Staates“ angeklagt, außerdem wegen 37-fachen Totschlags.
Trotz der zumindest indirekten Parteinahme für den IS durch die türkische Regierung im Kampf um Kobane wurde der IS letztlich von den kurdischen Verteidigungskräften mit Unterstützung der US-Luftwaffe zurückgeschlagen. Es war die erste große Niederlage des IS in Syrien und der Beginn der von der Türkei scharf kritisierten Zusammenarbeit der USA mit der kurdischen YPG-Miliz im Kampf gegen den IS.
Seit 2016 in U-Haft
Für die beiden prominentesten Angeklagten, Demirtaş und Figen Yüksekdağ, die damaligen ParteiführerInnen, fordert die Staatsanwaltschaft mehrmals lebenslängliche Haft, insgesamt für alle Angeklagten mehrere tausend Jahre.
Demirtaş und Yüksekdağ wurden im Herbst 2016 verhaftet und sitzen seitdem in U-Haft. Mit ihnen sitzen 26 weitere Angeklagte in U-Haft, einige wurden erst im letzten Oktober verhaftet. Sechs der Angeklagten sind offiziell auf freiem Fuß, 72 sind flüchtig.*
Gegen Demirtaş laufen mehrere weitere Gerichtsverfahren, in einem wurde er bereits zu vier Jahren Haft wegen „Beleidigung des Staatspräsidenten“ verurteilt. Dieses Urteil erfolgte, nachdem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) 2018 zum ersten Mal seine Freilassung aus der Untersuchungshaft gefordert hatte.
Im Dezember 2020 urteilte dann die Große Kammer des EGMR erneut und forderte wieder die Freilassung von Demirtaş. In diesem Verfahren entschied der EGMR auch, dass der Aufruf zu Demonstrationen 2014, der jetzt vor Gericht verhandelt wird, von der Meinungsfreiheit gedeckt war. Die türkische Regierung lehnte eine Freilassung von Demirtaş dennoch ab.
Prozess begann mit Tumulten
Wie auch in den meisten anderen Verfahren gegen Demirtaş wurde er am Montag aus seinem Gefängnis in Edirne per Video zugeschaltet. Der Prozess begann mit Tumulten, die sich im Laufe des Tages fortsetzten.
Zunächst verweigerte das Gericht einem Teil der Anwälte die Teilnahme, woraufhin sich die gesamte VerteidigerInnen-Riege zurückzog. Demirtaş kündigte daraufhin an, jede Kooperation mit dem Gericht zu verweigern: „Wir werden nicht einmal unsere Personalien angeben“, solange die AnwältInnen nicht da sind.
Nachdem diese Frage geklärt werden konnte und die VerteidigerInnen wieder im Saal waren, ließ der Vorsitzende dann Demirtaş nicht reden, was zu erneuten Tumulten führte. Der erste Prozesstag war der Verlesung der 3.000 Seiten langen Anklage gewidmet.
Den Prozess wollten etliche Vertreter in- und ausländischer Menschenrechtsorganisationen beobachten. Vielen wurde ebenfalls der Zutritt zum Gerichtsaal verweigert. Die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Bärbel Kofler, bezweifelte in einer Stellungnahme, dass gegen die Angeklagten ein fairer Prozess stattfinden werde und forderte, dass die türkische Regierung endlich die Entscheidungen des EGMR umsetzt.
* In einer früheren Version dieses Artikels war die Zahl der flüchtigen Angeklagten mit 64 angegeben. Wir haben den Fehler korrigiert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel
Ende der scheinheiligen Zeit
Hilfe, es weihnachtete zu sehr