Imperialistische Bestrebungen der Türkei: Ankara auf Expansionskurs

Die Türkei macht Ernst mit Ansprüchen auf frühere Gebiete des Osmanischen Reichs. Besonders deutlich werden die Großmachtvisionen in Nordsyrien.

Der türkische Präsident Erdogan am Rednerpult. Hinter ihm vier türkische Flaggen

Herrscher mit Expansionsallüren: Erdoğan wünscht sich das Osmanische Reich zurück Foto: Turkish Presidency/ap

Der von der Regierung unter Recep Tayyip Erdoğan propagierte Neo­osmanismus erschöpft sich schon lange nicht mehr nur in Rhetorik. In etlichen ehemaligen Territorien des Osmanischen Reichs, das von der türkischen Regierung auch im Rückgriff auf die Seldschuken-Ära glorifiziert wird, ist die Türkei wieder mehr oder weniger direkt präsent.

Nach Nordzypern, ehemals osmanisches Gebiet, entsandte sie 1974 Militärkräfte, die bis heute den international nicht anerkannten Marionettenstaat „Türkische Republik Nordzypern“ stützen. Dass eine Wiedervereinigung der geteilten Insel nicht mehr infrage kommt, ließ Erdoğan bereits im vergangenen November wissen, als er die nordzyprische, einst überwiegend von Zyperngriechen bewohnte Küstensiedlung Varosha besuchte.

Anders als Zypern liegt Nordsyrien, ebenfalls früheres osmanisches Herrschaftsgebiet, direkt vor der Haustür der Türkei. Hier werden die türkischen Ansprüche noch aggressiver durchgesetzt. Seit 2016 hat Ankara in mehreren Mili­tär­ope­ra­tio­nen der IS-Miliz und vor allem der als „Terroristen“-Nest gebrandmarkten Kurden-Autonomie Gebiete entrissen und dort seine syrischen Vasallen aus den Reihen der Anti-Assad-Rebellen installiert.

Die von ihnen aufgestellte „Syrische Übergangsregierung“ (SIG) war im März 2013 in Istanbul gegründet worden und hatte ihren Sitz zunächst in der südtürkischen Stadt Gaziantep, bis sie in die nordsyrische Stadt Azaz verlegt wurde. Ihren offiziellen Verlautbarungen zufolge regiert die SIG über einen eigenen Staat, die „Arabische Syrische Republik“. Mit der Namenswahl wird unmissverständlich Anspruch auf das Gebiet des von Assad beherrschten gleichnamigen syrischen Staats erhoben.

Freilich zeigt sich der SIG-Staat gleichzeitig als Geschöpf der Türkei, worauf bereits die allgegenwärtige Zweisprachigkeit von Arabisch und Türkisch hinweist. An den Rathäusern prangen – häufig von der türkischen und der SIG-Fahne flankiert – Schilder in arabischer und türkischer Sprache, so auch an anderen Amtsgebäuden, Schulen und Jugendklubs. Zweisprachig sind auch die dort ausgestellten Personalausweise.

Religionsunterricht für Geflüchtete

Strom, Telekommunikation, die Währung sowie das Banken- und Postsystem kommen in den SIG-Gebieten aus der Türkei. Für den zügig vorangetriebenen Ausbau der Infrastruktur sorgen türkische Baufirmen und religiöse Wohlfahrtsorganisationen. In der Türkei wird diese paternalistische Einflussnahme als „Hilfe für die syrischen Brüder“ apostrophiert.

Ihr erklärtes Ziel ist, geflüchtete, vor allem arabisch-sunnitische Syrer in den besetzten Grenzgebieten anzusiedeln – wohlgemerkt bei gleichzeitiger Vertreibung und Umsiedlung ansässiger Kurden und Jesiden. Und die sollen ganz offensichtlich im Sinne der Religionspolitik der AKP-Regierung erzogen werden. Mit direkter türkischer Unterstützung werden in den SIG-Gebieten immer mehr Moscheen restauriert oder auch neu gebaut.

Die religiösen Einrichtungen werden vom türkischen Diyanet finanziert und übernehmen, wie in der Türkei, auch die religiöse Volkserziehung. Aus seinen medialen Selbstinszenierungen im Internet wird ersichtlich, dass der unter türkischer Ägide im Aufbau befindliche militärische Arm der SIG, die „Syrische Nationale Armee“ (SNA), im Geist des Islamismus und Neoosmanismus der AKP indoktriniert wird.

Die SNA setzt sich aus der einst säkularen, später islamistisch geprägten „Freien Syrischen Armee“ und der 2018 in Nordsyrien von gleichgesinnten Milizen gebildeten „Nationalen Befreiungsfront“ zusammen. In den letzten Jahren sind etliche neue SNA-Einheiten hinzugekommen, die häufig nach seldschukischen und osmanischen Herrschern – etwa Sultan Mehmed II., dem Eroberer Konstantinopels – benannt sind.

Vorbild sind Kalifen und Sultane

Für eine neoosmanisch gefärbte ideologische Schulung auch des größeren, des arabischen Teils der SNA, die auf die „Befreiung“ des restlichen Syrien von den „Feinden Allahs“ – die „terroristische“ PKK und das „verbrecherische“ Assad-Regime – eingeschworen wird, sorgt der Chef der SNA-„Direktion für moralische Führung“, Hassan al-Daghim, höchstselbst.

In seinen Ansprachen vor Soldaten stellt er den Befreiungskampf in eine Linie mit den Eroberungskriegen muslimischer Herrscher – von den Weggefährten Mohammeds über die arabischen Kalifen bis hin zu den seldschukischen und osmanischen Sultanen. Auch deren jahrhundertelange Besetzung europäischen Bodens wird von al-Daghim lobend in Erinnerung gerufen. An seiner Personalie wird die ideologische Stoßrichtung des militärpolitischen türkisch-syrischen Unternehmens besonders offenbar.

Der 1976 in Nordsyrien geborene Hassan al-Daghim absolvierte im Sudan und in Damaskus ein Scharia-Studium und war als Imam tätig, bevor er sich den islamistischen syrischen Rebellen anschloss und an der Gründung von Scharia-Gerichten in ihren nordsyrischen Operationsgebieten mitwirkte. Er ist auch Mitglied des 2014 in Istanbul gebildeten oppositionellen „Syrischen Islamischen Rats“ und somit ein Scharnier zwischen der SNA und diesem islamistischen Gelehrtenrat.

Er beansprucht für sich nicht weniger als die geistige Führung des Oppositionslagers wie auch der syrischen Flüchtlinge in der Region – und wird dabei vom türkischen Diyanet unterstützt. Nun könnte man darüber debattieren, ob das SIG-Staatswesen ein verkapptes türkisches Protektorat, ein „sanftes“ Kolonialprojekt oder schlicht ein Marionettenstaat der Türkei ist. Doch dies scheint bislang auch nicht im Ansatz geschehen zu sein.

In westlichen Medien wird Erdoğans Neoosmanismus jedenfalls oft als Ausdruck von Großmachtfantasien belächelt, die sich in Sultansnostalgie und Geschichtsmaskeraden erschöpfen. Doch seine Umsetzung in knallharte Geopolitik hat längst begonnen und sollte endlich ernst genommen werden. Kritische Fragen an Ankara, gerade auch vonseiten seiner europäischen Gesprächspartner, sind überfällig.

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geboren 1960 in Haifa, ist Historiker, Journalist und Autor von Büchern, darunter „Die ­Deutschen und der Orient“, Hanser Verlag 2018. Zuletzt erschien im Februar „Al-Aqsa oder Tempelberg – Der ewige Kampf um Jerusalems heilige Stätten“ im Verlag C. H.Beck.

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