Knastmütter: Ein ganz normales Leben
Mütter mit Kindern sind eine Seltenheit in deutschen Gefängnissen. In der JVA Chemnitz sitzen zurzeit vier Kleinstfamilien ein.
CHEMNITZ taz Sie hätte nicht gedacht, dass es sie doch noch erwischt. Sie hatte gehofft, dass die Sache im Sande verläuft. Schließlich war die Angelegenheit drei Jahre her und sie inzwischen Mutter. Aber nun ist Melanie Schneider* doch dort, wohin der Richter sie für neun Monate geschickt hat: hinter Gittern.
Aber die Fenster von Melanie Schneiders Haftraum haben keine Gitter. Es gibt keine Stacheldrahtkrone auf einer meterhohen Betonmauer, keine krachenden Stahltüren und keine Beamten, die mit schweren Schlüsselbunden klappern. Es gibt eine Mauer, so niedrig, dass man drüberklettern kann, und eine Tür, die weit offen steht. Sie führt hinaus auf eine Wiese mit Schaukel, Wippe und Buddelkasten. Einzig das Eingangsschild mit der Aufschrift "Justizvollzugsanstalt Chemnitz" erinnert daran, dass dies hier tatsächlich ein Gefängnis ist und keine betreute Wohngemeinschaft.
Der Grund dafür, dass sie hier ist, ist Jeremy*. Melanie Schneider schiebt ihrem Sohn einen Löffel mit Kartoffeln und Soße in den Mund. Die beiden sitzen am langen Esstisch im Gemeinschaftsraum des Mutter-Kind-Hauses im offenen Vollzug. Der zweistöckige gelbe Flachbau liegt außerhalb des Geländes, in dem die "richtigen", abgeriegelten Knäste stehen. In der Zimmerecke thront neben einer braunen Couch der Fernseher, auf dem Boden lümmelt Spielzeug. Der Junge schmatzt und gluckst und patscht nach dem Becher mit dem Tee.
In den nächsten Tagen wird Jeremy ein Jahr alt. Den Geburtstag will seine Mutter "draußen" feiern, gemeinsam mit "meinem Männe", dem Vater des Jungen, ihren Eltern und den Schwiegereltern. Es soll Kuchen und Limonade geben, und wenn das Wetter hält, wird gegrillt.
Jeremy war noch ganz klein, als er von Dresden nach Chemnitz umgezogen ist, in die JVA. Wenn er älter ist, wird er sich nicht daran erinnern, dass er die ersten Monate seines Lebens im Knast verbracht hat. Und das ist gut so. Darin liegt der Sinn der in Chemnitz praktizierten Freizügigkeit für Mütter mit Kindern bis zu drei Jahren im offenen Vollzug, sagt Anstaltsleiter Jörn Goeckenjan: "Das Kind kann ja nichts dafür." Er sagt außerdem: "Soziale Kontakte sollen erhalten bleiben. Die Zeit hier ist begrenzt für die Frauen."
Die JVA Chemnitz mit insgesamt 792 Plätzen ist das größte Gefängnis in Sachsen, es ist fast voll belegt, drei Viertel der Insassen sind Männer. Chemnitz ist die einzige Einrichtung in Ostdeutschland, in der Frauen eine Haftstrafe gemeinsam mit ihren Kindern verbringen können. Bundesweit gibt es etwa zwanzig solche Plätze für Frauen, in Chemnitz sind es fünf, vier davon sind zurzeit belegt. Die Taten der Mütter scheinen banal: Sie haben gestohlen und zugeschlagen, sind wiederholt betrunken Auto oder schwarzgefahren, wollen oder können eine Geldstrafe nicht bezahlen.
Melanie Schneider ist 28 Jahre alt, sie will, wenn sie Ende des Jahres rauskommt, ein "ganz normales Leben" führen. Mit Mann, Kind, Job. Vorher war ihr Leben offenbar nicht normal. Verurteilt wurde sie wegen Betrugs: Jemand hat, sagt sie, unter fremdem Namen bei einem Drogeriediscounter Shampoo, Waschmittel und Parfüm bestellt und an ihre Adresse schicken lassen. Wert: 91 Euro. Vor Gericht hat Melanie Schneider erklärt, sie sei das nicht gewesen. "Das konnte ich aber nicht beweisen."
Sie lässt Jeremy auf dem Linoleumboden krabbeln und stochert in ihren Nudeln herum. Sie sind kalt geworden. Neun Monate ohne Bewährung für 91 Euro, für einen geringen Betrug, kann man das glauben? In Deutschland werden jährlich 6,5 Millionen Strafanzeigen aufgenommen, aber nur rund 80.000 Täter und Täterinnen werden inhaftiert. Melanie Schneider schweigt. Das blonde Haar mit der lilafarbenen Strähne hat sie zum Zopf gebunden, ihre Füße stecken in bunten Badelatschen. "Ich war selbstständig", erzählt Melanie Schneider. "Ich hatte ein Restaurant." Aber: "Ich habe gegammelt, einfach nur abgehangen." Es waren auch die falschen Freunde, sagt sie.
Als Melanie Schneider das alles begriffen hatte, war es zu spät. Von der Haft blieb sie nicht verschont. Womöglich ist die sogar die Rettung für sie. Denn während der Zeit im Knast wird jede Frau sozialarbeiterisch betreut, sagt Peter Hecker. Der Leiter des offenen Frauenvollzugs achtet zum Beispiel darauf, dass Melanie Schneider und die drei anderen Mütter gemeinsam und mit ihren Kindern essen. Die Frauen müssen die Wäsche für ihre Töchter und Söhne selber waschen, sie haben für sie einzukaufen und zu kochen. Täglich kontrolliert Peter Hecker die Hafträume, von "Zellen" spricht hier niemand. "Die Frauen lernen, wie Alltag funktioniert, sie übernehmen Verantwortung für sich und ihre Kinder", sagt Hecker.
Jeremy riecht babyfrisch, Melanie Schneider wischt ihm den Sabber ab, sobald der aus dem Mund des Kleinen tropft. Sie fühlt sich auch gegängelt manchmal: "Telefonieren auf dem Gang, dass jeder alles mithört, die Briefe muss ich offen lassen, jeden Weg, den ich machen will, muss ich beantragen."
Sie weiß aber auch, dass sie "wahnsinniges Glück" hat. Zu ihrem Glück gehört, dass sie die JVA aller vierzehn Tage für 24 Stunden und an den Wochenenden dazwischen für 12 Stunden verlassen darf, ein Mal in der Woche bekommt sie Besuch von "Männe", der ist Elektriker auf Montage. So stellt sich offener Vollzug für Außenstehende dar: moderat und tolerant, ein bisschen wie Ferienlager. Ansonsten kauft Melanie Schneider zwei Mal in der Woche im nahegelegenen Supermarkt vor den Toren der JVA für ihren Sohn Windeln, Spielzeug, Kleidung, Lebens- und Pflegemittel ein. Jeremy ist "nur" Gast im Knast, Melanie Schneider muss für ihn sorgen und bezahlen, das übernimmt nicht das Gefängnis. Dafür bekommt sie Kinder- und Erziehungsgeld. Die Kosten für sie als Gefangene trägt das Land, täglich 69 Euro. Außerdem bekommt die Gefangene im Monat 32 Euro Taschengeld. Davon kauft sich Melanie Schneider gern Kosmetik.
Warum spart man die Kosten für Insassinnen wie Melanie Schneider nicht und lässt sie unter Auflagen in ihren Wohnungen? "Das ist eine ideologische Frage", sagt Anstaltsleiter Jörn Goeckenjan und winkt ab. Der 38-Jährige kennt sie schon aus seiner Studienzeit, die Debatte über den Nutzen von Knast. Seit den Siebzigerjahren wird darüber diskutiert. Manche fordern, Gefangene sollten als Gefangene behandelt werden. Andere hingegen plädieren im Namen der Demokratie für die Freiheit in der Unfreiheit. Bis heute argumentieren die Kritiker des Strafvollzugs ähnlich: Knäste verstießen gegen elementare Menschenrechte; Inhaftierte würden für Niedriglöhne zur Arbeit gezwungen; je länger die Haft dauere, desto größer sei die Gefahr von Wiederholungstaten.
Ganz falsch ist das nicht. Eine Studie des Bundesjustizministeriums zu Beginn der Neunzigerjahre hat einmal gezeigt, dass Täter mit Bewährungsstrafen seltener rückfällig werden als jene, die ihre Haftstrafe antreten mussten. Wahr ist ebenso: Mörder und Totschläger sind in der Minderheit, zwei Drittel aller Inhaftierten sind wegen Eigentums- und Vermögensdelikten verurteilt und inhaftiert.
Melanie Schneider ist ein Beispiel dafür, dass Resozialisierung bei "Leichttätern" greifen kann. "Ich will nie, nie wieder in den Knast", sagt sie. Sie hält das hier jetzt durch. Auch für Jeremy. Ein einziges Mal in den vergangenen zwanzig Jahren ist eine Frau über die Mauer geklettert, erzählt Jörn Goeckenjan. "Die war schwanger und die hatten wir am nächsten Tag wieder." Der offene Vollzug war für sie damit passé, sie wanderte in das vergitterte und verschlossene Frauenhaus.
Das Zimmer von Melanie Schneider ist gut geheizt, das Fenster steht offen. Sie sagt: "Das nutz ich hier aus." An der Wand über ihrem Bett, unter dem Regal mit der Kosmetik, hängt der Essenplan für ihren Sohn, für die gesamte Woche. "Den stelle ich selbst auf", erzählt sie, "damit ich weiß, was ich einkaufen muss." Früher habe sie mit Geld nicht umgehen können.
In Peter Heckers Schrank liegt ein Haushaltsbuch, in das die Frauen detailliert einschreiben, was sie von ihren Freigängen in den Einkaufstüten in den Knast tragen. "Kontrolle", sagt der 51-Jährige, "aber auch ganz praktische Starthilfe für später." Manchmal muss Hecker als Streitschlichter ran, "wenns mal wieder brennt", wenn Zoff angesagt ist. "Das kriegen wir aber meistens hin." Dann ordnet er eine Runde am großen Tisch an, die Streite sind banal: Die eine kann gerade nicht mit der anderen, weil die gesagt hat, sie sei bescheuert Ein bisschen wie in der Grundschule. Hecker sagt: "Ich will hier Ruhe."
"Ich leide nicht", sagt Melanie Schneider. "Ich bin mit meinem Sohn zusammen, Tag und Nacht. Was will ich mehr?" Draußen, wenn sie sich um alles selbst kümmern muss, wird es härter. Ganz bestimmt.
*Namen geändert
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Prognose zu Zielen für Verkehrswende
2030 werden vier Millionen E-Autos fehlen
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Partei stellt Wahlprogramm vor
Linke will Lebenshaltungskosten für viele senken
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen