Klimaneutrales Stadtquartier: Aus Heide in die Zukunft

In der schleswig-holsteinischen Stadt soll ein Quartier klimaneutral werden. An den Plänen beteiligen sich Unternehmen, Universitäten und Verbände.

Windpark kurz nach Sonnenuntergang

Ist reichlich vorhanden und mus auch verbraucht werden: Windkraft in Schleswig-Holstein Foto: Christian Charisius/dpa

HAMBURG taz | Im Rüsdorfer Kamp in Heide bereiten Menschen die Zukunft vor. Wie die aussehen soll, haben sich die Mit­ar­bei­te­r:in­nen des Projekts Quarree100 bereits überlegt: klimaneutral, nachbarschaftlich, integrativ. Das 20 Hektar große Stadtquartier soll in den nächsten Jahren transformiert werden – mit Hilfe der Be­woh­ne­r:in­nen und einem effizientem Energiesystem.

Die Region Heide gilt, wie der ganze Nordwesten Deutschlands, als Modellregion für die Energiewende. Seit Jahren produziert Schleswig-Holstein mehr Strom, als es verbrauchen kann. Der Wind weht so verlässlich, dass die lokalen Stromnetze zeitweise überlastet sind.

Die Windräder produzieren schlicht zu viel erneuerbare Energie, als dass die Leitungen sie transportieren könnten. Um diesen Umstand zu verbessern und den Strom öfter laufen zu lassen, muss die Energie zwischengespeichert, umgewandelt, verteilt und genutzt werden. Genau daran arbeitet das Projekt Quarree100.

Das Projekt im Rüsdorfer Kamp verbindet über 20 Partner:innen, darunter Unternehmen, Verbände, Universitäten und Forschungseinrichtungen aus Deutschland und der Region Heide. Mit dabei ist auch die U Bremen Research Alliance, über die auch die Universität Bremen am Projekt beteiligt ist.

Übertragbare Lösungen gesucht

Seit fünf Jahren und noch bis Ende Oktober 2022 forschen und arbeiten sie an der Planung eines komplett nachhaltigen Stadtteils: am Strom- und Wärmenetz, an der Gebäudesanierung, an der Mobilität und an sozialen Begegnungszonen. Dazu baut das Team auf einen offenen und integrativen Prozess, bei dem An­woh­ne­r:in­nen von Anfang an mitmachen sollen.

Das Quartier, das für viele in Deutschland stehen soll, ist sehr heterogen. Es besteht aus Ein- und Mehrfamilienhäusern, Gewerbe- und Freiflächen, wie Martin Struve von der Entwicklungsagentur Region Heide sagt. Dazu komme eine Mischung aus älteren, über 100 Jahre alten Gebäuden und Neubauten, die teilweise noch in Planung sind. Laut Struve leben hier rund 400 Menschen, 150 weitere arbeiten im Viertel.

Die „Durchschnittlichkeit“ des Gebiets, die sich auch in den vielen Öl- und Gasheizungen spiegelt, ist für die Wis­sen­schaft­le­r:in­nen das Entscheidende: „Der Rüsdorfer Kamp hat Leuchtturmcharakter, die hier entwickelten Modelle lassen sich auf andere Regionen übertragen“, sagt Torben Stührmann, Koordinator des Projekts und Mitarbeiter der Universität Bremen.

Das Projekt wird von den Bundesministerien für Bildung und Forschung sowie Wirtschaft und Klimaschutz mit rund 24,5 Millionen Euro gefördert. Dafür sollen in den nächsten Jahren unter anderem ein klimaneu­trales Wärmenetz und eine Energiezentrale entstehen. Letztere werde das Quartier über eine Wärmepumpe mit Heizenergie versorgen, sagt Benedikt Meyer von der Uni Bremen. Zusätzlich stützen sich die Pla­ne­r:in­nen auf Erdwärme und Solarenergie.

Martin Struve, Entwicklungs-agentur Region Heide

„Der Sektor Wärme stößt unheimlich viel CO2 aus“

„Der Sektor Wärme stößt unheimlich viel CO2 aus“, sagt Struve. „Das liegt vor allem daran, dass die Häuser oft schlecht gedämmt sind und dass in den allermeisten Fällen fossile Energieträger eingesetzt werden.“

Der für die Wärmepumpe benötigte Strom sollte ursprünglich aus Überproduktionen von Windrädern kommen. „Das ist aber schwierig, wenn die Strompreise so steigen, wie aktuell zu sehen ist und netzdienlicher Strombezug nicht begünstigt wird“, sagt Struve.

Die lokalen Fotovoltaik-Anlagen seien deshalb momentan günstiger, um die benötigte Energie zumindest teilweise selbst herzustellen. So oder so geht die Planung noch weiter: Die überschüssige Energie, die gerade nicht ins Netz eingespeist werden kann, soll in Batterien zwischengespeichert werden oder zur Erzeugung von grünem Wasserstoff benutzt werden.

Der dadurch erzeugte Wasserstoff soll Teil der „Tankstelle der Zukunft“ werden, dem Mobilitätskonzept des Rüsdorfer Kamps: Zapfsäulen für wasserstoffbetriebene Fahrzeuge sorgen zusammen mit Elektro-Ladesäulen dafür, dass der Stadtteil nutzerfreundlich klimaneutral wird.

Ein besonderer Aspekt des Projekts ist die partizipative Forschung. Dazu gab es in den vergangenen Jahren verschiedene Bürgerbeteiligungsformate, wie Struve sagt: „Es gab Vorträge, Diskussionen, Workshops sowie Befragungen.“ Dieser Ansatz sei wichtig, um sich ein Bild vom Quartier und den Be­woh­ne­r:in­nen zu machen. Dabei kam auch ein digitaler Planungstisch zum Einsatz, an dem Bür­ge­r:in­nen nach dem Prinzip „Was passiert, wenn …“ Veränderungen im Quartier simulieren konnten.

Forschung öffentlich

Letztlich sei es aber häufig um die Kostenfrage gegangen. „Als der Öl- und Gaspreis vor ein paar Jahren noch sehr niedrig war, ist es uns schwer gefallen, eine zwar regenerative, aber auch etwas teurere Lösung anzubieten“, sagt Struve. Das habe sich mit der Kostensteigerung der vergangenen Monate geändert.

Das Projekt Quarree100 steht in Kontakt zu sechs weiteren Partnerprojekten aus der Förderinitiative des Bundes. Der regelmäßige Austausch sei sehr wichtig, auch wenn die Quartiere teilweise sehr unterschiedlich sind. „Der Ansatz soll zu 100 Prozent übertragbar sein“, sagt Struve.

Auch deshalb ist die Forschung öffentlich einsehbar. „Wir setzen auf Open Science. Unsere Modelle sind frei verfügbar, andere können sie nutzen und nach ihren Bedürfnissen weiterentwickeln“, sagt Meyer. „Je mehr daran arbeiten und ihre Ideen einbringen, desto besser!“

Um das Projekt umzusetzen, ist laut Struve ein zweistelliger Millionenbetrag nötig. Vor einigen Wochen sei ein privatwirtschaftliches Unternehmen gefunden worden, mit dem gemeinsam die Umsetzung und der Betrieb des Energiesystems forciert werden soll. Das Team vom Quarree100 wird weiterhin beteiligt sein, um die Forschungsergebnisse und das planerische Wissen einfließen zu lassen.

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