Kleine Utopien in der Videokunst: Die Geschichte wird reicher

Der Künstler Stan Douglas ist als diskreter Schnittmeister von montierten Welten zu erleben. Zu sehen in der Julia Stoschek Collection Berlin.

Eine Frau in bunter Bluse agiert umgeben von Schlaginstrumenten.

Die Schlagzeugerin Kimberly Thompson erzeugt den Takt, aus „Luanda-Kinshasa“ von Stan Douglas Foto: Stan Douglas, Victoria Miro und David Zwirner „Luanda-Kinshasa“

Der Groove stimmt. Auf der Leinwand zu sehen sind dazu die beteiligten Musiker: eine Schlagzeugerin, ein Bassist, zwei Gitarristen, zwei Keyboarder, zwei Perkussionisten und ein Saxofonist. Das neunköpfige Ensemble spielt eine Mischung aus Fusion, Disco und Afrobeat, rollender Funk mit komplex verschachtelten Rhythmen. Sechs Stunden und eine Minute lang.

Wie in einem Tonstudio sitzen und stehen die Musiker mit einigem Abstand voneinander verteilt, die Kamera wechselt von einem zum anderen, nimmt mal zwei, auch drei von ihnen auf einmal in den Blick. Doch der Bildausschnitt bleibt stets so nah, dass nie alle Beteiligten gleichzeitig zu sehen sind.

Der Grund dafür ist einfach: Die Studiosession, die man in der Arbeit „Luanda-Kinshasa“ des kanadischen Künstlers Stan Douglas sehen kann, hat so nie stattgefunden. Oder genauer gesagt: Statt einer Session waren es zwei, bei denen jeweils eine Hälfte der Musiker spielte. Und keine der Sessions dauerte volle sechs Stunden.

Kimberly Thompson ist die Taktgeberin

Aus dem dabei entstandenen Material schnitt Stan Douglas das schier endlos scheinende Stück zusammen, das im Video zu hören und wie eine Art intimes Konzertdokument zu erleben ist. Alles konstruiert, Bild wie Musik, bloß so, dass man davon nichts mitbekommt. Die „Band“ um den Pianisten Jason Moran hat dieser sogar eigens für das Projekt zusammengestellt, darunter die Schlagzeugerin Kimberly Thompson, die zuvor etwa mit Béyoncé zusammengearbeitet hat und die für die anderen Kollegen bei den Aufnahmen buchstäblich den Takt vorgab, sodass sich das Material überhaupt im selben Tempo sinnvoll kombinieren ließ.

Stan Douglas: „Splicing Block“, Julia Stoschek Collection Berlin, bis 1. 3. 2020, Katalog 12 Euro

Stan Douglas imaginiert mit dieser Arbeit von 2013 eine mögliche Richtung, die der Musiker Miles Davis nach dem seinerzeit wenig erfolgreichen, heute aber als visionär gefeierten Fusion-Album „On the Corner“ aus dem Jahr 1972 hätte einschlagen können: Was, wenn sich Miles Davis damals von einer Platte wie Manu Dibangos Afrobeat-Fusion-Album „Soul ­Makossa“ hätte inspirieren lassen?

„Luanda-Kinshasa“ skizziert als mögliche Antwort einen alternativen Verlauf der Musikgeschichte, lässt ihn, für die Dauer von sechs Stunden zumindest, filmische Wirklichkeit werden, als Endlos-Jam. Wenn auch ohne Miles Davis. Die Kostümierung jedenfalls ist bestens auf die fiktive Entstehungszeit der Musik abgestimmt, man trägt bunt gemusterte Hemden und Schlaghosen.

Auf den Einsatz warten

„Luanda-Kinshasa“ ist ­derzeit in der Ausstellung „Splicing Block“ in der Julia Stoschek Collection Berlin zu sehen. Die Bezeichnung „splicing block“ stammt aus der Filmtechnik, man verwendet diese Geräte, um „Spleiße“ herzustellen, Klebstellen beziehungsweise Schweißnähte, mit denen Teile eines analogen Films beim Schnitt verbunden werden. Und die Idee des Auseinandernehmens und Zusammenfügens bildet in den präsentierten Arbeiten von Douglas durchaus eine übergeordnete Klammer.

So zeigt „Hors-champs“, die andere dargebotene Videoarbeit, eine weitere Jazz-Session. Diesmal ist es der ebenfalls fiktive Auftritt Albert Aylers im französischen Fernsehen der sechziger Jahre, als dort Programme wie „Modern Jazz at Studio 4“ liefen. In Schwarz-Weiß sieht man ein Quartett aus Saxofon, Posaune, Kontrabass und Schlagzeug. Sie spielen Aylers Free-Jazz-Stück „Spirits Rejoice“, in dem auch die „Marseillaise“ anklingt. Den Saxofonpart Aylers übernimmt im Video der Musiker Douglas Ewart, der Posaunist an seiner Seite ist George Lewis.

„Hors-champs“, 1991 im Pariser Centre Pompidou mit zwei Kameras gefilmt, besteht aus zwei Projektionen, die auf dieselbe Leinwand geworfen werden. Auf der einen Seite ist der „offizielle“ Teil des Materials zu sehen, die Bilder, die im Fernsehen höchstwahrscheinlich zu sehen gewesen wären, wenn es diese „Fernsehsendung“ gegeben hätte. Auf der Rückseite ist der „Ausschuss“ zu sehen, Einstellungen, in denen versehentlich schon mal der Bauch von George Lewis ohne dessen Kopf auftaucht, oder eine Aufnahme des Saxofonisten, wie er während eines Kontrabasssolos fast ungeduldig auf seinen Einsatz wartet.

Außerhalb des Bildfeldes

Der Begriff „hors-champ“ stammt aus den Filmwissenschaften, bezeichnet den Teil des Bildraums außerhalb des Bildfelds, mithin das, was die Kamera gerade nicht zeigt. Hier führt Douglas fast schon didaktisch vor, wie dieser Ausschluss des Gezeigten funktioniert: Wer die Vorderseite der Leinwand betrachtet, bekommt nicht mit, was auf der Rückseite geschieht.

Beide Formen der fantastischen Historie, wie Douglas sie inszeniert, bieten kleine Utopien, die der eigenen Fantasie genug Raum lassen, sie selbst weiter zu erzählen. Die Geschichte wird reicher, ohne dass an ihr gewaltsame Korrekturen vorgenommen würden. Und vor allem in der Welt von „Luanda-Kinshasa“ möchte man sehr gern verweilen.

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