Klassiker Deutschland gegen England: Fortsetzung eines ewigen Dramas
Mehr Historie als das Spiel Deutschland gegen England birgt kaum ein Duell in sich. Die Spieler wollen nun selbst Unvergessliches schaffen.
Es ist ein riesiger Rucksack, mit dem die jungen Männer an diesem Dienstag, wenn es mal wieder England gegen Deutschland heißt, auf den Platz geschickt werden. Die ganze Fußballgeschichte dieser beiden Sportnationen müssen sie auf das Feld schleppen. Und so wird schon mal ein harmloses Sätzchen zum ganz großen Ding. Kai Havertz hat am Tag vor der Abreise der Deutschen aus dem Teamquartier in Herzogenaurach gesagt: „England-Schreck war ich noch nicht, ich hoffe, dass ich es am Dienstag sein werde.“ Zack. Bumm. Der traut sich was.
War das eine Kampfansage? Der Auftakt für ein neues englisch-deutsches Fußballdrama? Das Spiel, das erst am Dienstagabend entschieden sein wird, läuft, seit feststeht, dass es im Achtelfinale dieser EM in Wembley zu diesem Duell kommen wird.
Überhaupt Wembley. Es mag gespenstisch sein, mitten in der Delta-Welle in London vor 40.000 Zuschauern zu spielen. „40.000 Zuschauer im Stadion im einzigen Land in Europa, wo die Inzidenzen hoch sind. Das macht es für uns nicht ungefährlich“, meinte Robin Gosens dazu. Dass deutschen Fans die Anreise durch die strengen Quarantäneregeln, die im Königreich gelten, schier unmöglich ist und deshalb Karten nur an deutsche Expats in England vergeben wurden – auch das gehört zu den Geschichten um dieses Spiel. Doch all sie werden ganz klein, sobald das Thema auf die irre Historie dieses Klassikers kommt.
Wembley. Da war dieses Tor, das keines gewesen sein soll. Das Tor im WM-Finale, mit dem die Engländer 1966 den entscheidenden Schritt in Richtung WM-Titel gingen. Jener Ball, der von der Unterkante der Latte auf, vor oder hinter der Linie und von dort zurück ins Feld gesprungen ist, ist eines der Wahrzeichen in der deutschen Fußballlandschaft. Das Bild, das zeigt, wie Uwe Seeler mit hängendem Kopf vom Platz schleicht, haben alle schon einmal gesehen, die sich nur ein bisschen für Fußball interessieren. Es ist eines der bekanntesten Sportbilder des Landes. Die Enttäuschung, die Ernsthaftigkeit, das Leiden, das aus dem Bild spricht, gehört zum Kanon der deutschen Fußballreligion. Es zeigt die Passion in all ihrer Schwere.
„Extrem Bock drauf“
Und da sollen nun die Mannen von Joachim Löw einfach auf den Platz gehen und losspielen? Klar. Am besten ganz locker und unverkrampft. „Ich selbst war noch nie in Wembley und habe extrem Bock drauf“, sagte Außenbahnspieler Robin Gosens in der von ihm so gern gewählten Bolzplatzdiktion. Er schwärmte über den „Speed“ und die „Offensivkraft“ der Engländer und meinte, er sei wohl in erster Linie als Verteidiger gefragt. Tja, die Defensive der Deutschen war in allen drei Spielen spektakulär instabil. Und nun soll sie es richten? „Wir müssen zuerst ihre Stärken aus dem Spiel nehmen, bevor wir unsere Stärken ausspielen können“, sagte Gosens dazu. Kann das gut gehen?
Kai Havertz
Ob es klappen wird, das wusste Bundestrainer Helmut Schön auch nicht, als er 1972 zum Viertelfinalhinspiel der Europameisterschaft einen Haufen junger Spieler auf den Platz schickte und sie machen ließ, was sie konnten wie kaum eine deutsche Mannschaft nach ihnen: spielen. Der Junge Uli Hoeneß durfte zeigen, was er konnte, Paul Breitner durfte vom Spielfeld aus miterleben, wie ein Spielmacher namens Günter Netzer einen Pass nach dem anderen an den Mann brachte, und spielte sich dabei selbst frei. Freunde des schönen Spiels in Deutschland, das es ja lange schwer hatte im Land der Vorstopper, verhalten sich bis heute wie Groupies, wenn die Rede auf dieses Spiel kommt. Die Wembley-Elf, deren 3:1 der erste Sieg einer deutschen Nationalmannschaft auf dem heiligen englischen Rasen war, hat es gar zum eigenen Wikipedia-Eintrag gebracht.
Vor diesem Hintergrund kann ein Satz wie dieser ja nur abstinken: „Wir versuchen das Spiel in 90 Minuten zu gewinnen.“ Kai Havertz hat ihn gesagt. Der lebt zwar in London, wo er für den FC Chelsea arbeitet, dem er mit seinem Finaltor den Champions-League-Sieg ermöglicht hat, war aber auch noch nie in Wembley. Und wenn der Versuch nicht klappt? Wenn es gar ins Elfmeterschießen geht? „Ich würde auf jeden Fall einen Elfmeter schießen“, meinte er.
Das war ja auch noch in Wembley. Jenes Viertelfinale bei der Europameisterschaft 1996, das nach 120 unfassbar intensiven Minuten im Elfmeterschießen zugunsten der Deutschen ausgegangen ist. Andreas Möller hat es entschieden, nachdem zuvor Gareth Southgate an Torhüter Andreas Köpke gescheitert war. Southgate ist heute Trainer der Engländer.
Er hat selbst Geschichte in Wembley geschrieben und wird wissen, wie schwer der Rucksack ist, den die Spieler am Dienstag aufs Feld tragen werden – die englischen ebenso wie die deutschen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Nach der Gewalt in Amsterdam
Eine Stadt in Aufruhr
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Anführer
Die Wahrheit
Der erste Schnee
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja