Klassenbesuch in Berlin: Schule ohne Grenzen
Die Fläming-Grundschule in Berlin war vor 50 Jahren Deutschlands erste inklusive Schule. Was klappt hier bei der Integration besser als woanders?
„Die Kinder helfen einander, das ist die beste Lösung“, sagt Meier. Lange hätten sie für diese Atmosphäre gearbeitet. 19 Kinder sitzen im Unterricht, eine ungewöhnlich kleine Größe – auch für diese Schule. Zwei von ihnen haben ADHS. Ein weiteres hat die Glasknochenkrankheit. Das Kind, das den Stundenplan vorgestellt hat, hat die Förderdiagnose „geistige Entwicklung“, dass heißt, es liegt mit seiner schulischen Leistung weit hinter den anderen zurück. Ein anderes Kind hat die gleiche Diagnose und ist außerdem autistisch. Manchmal schreit es, macht Geräusche, ist unruhig, steht plötzlich auf und läuft durch den Raum.
Die Fläming-Grundschule hat eine besondere Geschichte: Sie ist Deutschlands erste inklusive Schule. Vor knapp 50 Jahren kämpften Eltern dafür, dass ihre Kinder, die eine Behinderung hatten und im Kindergarten noch mit allen anderen Kindern spielen durften, mit Beginn der Schulzeit nicht ausgeschlossen würden. Sie forderten ein, dass ihre Kinder, egal ob sie im Rollstuhl saßen, gehörlos waren oder das Down-Syndrom hatten, auf dieselbe Schule gehen konnten wie deren Freundinnen und Freunde. Die Fläming-Grundschule stand an ihrer Seite.
Im Schulalltag begann eine Reise ins Unbekannte, eine Zeit des Experimentierens mit verschiedenen Unterrichtsformaten, die allen Kindern gerecht werden konnten. Und des Entwickelns eines Schulteams, das den Anforderungen gewachsen war. „Wir fragen nicht: Was muss das Kind können, damit es zu uns passt? Sondern: Was muss die Schule schaffen, damit das Kind zu uns gehen kann?“, verdeutlicht Schulleiterin Christiane Wendt die Haltung bis heute.
Lernen auf den Gängen und auf dem Boden
Mit dem Geld für zusätzliche Personalstellen, das das Land Berlin mittlerweile für seine Schulen mit Schwerpunkt Inklusion ausgibt, hat sich die Friedenauer Grundschule Sonderpädagoginnen, pädagogische Mitarbeiter, Schulhelferinnen, Sozialpädagogen, Integrationserzieherinnen und Psychologen ins Haus geholt. Auch eine sonderpädagogische Koordinationskraft gibt es mittlerweile, die sich um Supervisionen kümmert, um die Flut an Anträgen, die ausgefüllt werden müssen, und um die Beratung von Kolleginnen und Kollegen. Für gewöhnlich gibt es so eine Stelle an Schulen gar nicht. Aber in Berlin-Friedenau hatten sie aus der jahrelangen Erfahrung heraus das Gefühl, dass genau so jemand gebraucht werde.
Klassenlehrerin Luisa Schön ist wie die meisten ihrer Kollegen und Kolleginnen eine studierte Sonderpädagogin. Ob in ihrer Klasse Inklusionskinder sind oder nicht, spielt für sie keine große Rolle. Sie gewährt den Kindern viel Freiraum. Phasenweise dürfen sie auf dem Boden arbeiten, draußen in den Gängen lernen oder sich in einen ruhigen Nebenraum zurückziehen.
Ein wilder Haufen ist die Klasse trotzdem nicht. Peu à peu hat sie mit ihnen erarbeitet, dass auch beim freieren Lernen Regeln eingehalten werden müssen. „Klassen sind immer vielfältig, unabhängig von der Inklusion“, sagt sie. „Es gibt immer Kinder, auf die man unterschiedlich eingehen muss. Jedes einzelne Kind bringt sein Päckchen mit.“
Dass sie einander helfen, ist eine Selbstverständlichkeit in der Klasse. Die Kinder, die nicht alleine auf den Pausenhof gehen können, werden von anderen abwechselnd begleitet. Damit sie sich mit gehörlosen Kindern verständigen können, lernen sie alle ein paar Ausdrücke in der Gebärdensprache. Und wenn ein Kind zu laut und unruhig wird, wissen die Kinder meist, wie es beruhigt werden kann. Die Jungen und Mädchen entwickeln feine Antennen für die Nöte ihrer Mitschüler. „Manchmal bessere als die Erwachsenen“, findet Tobias Meier.
UN besorgt über Inklusion in Deutschland
Doch was an der Fläming-Grundschule selbstverständlich ist, scheint woanders noch unmöglich. Im Jahr 2009 ratifizierte Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention. Darin verpflichtet man sich offiziell sicherzustellen, dass kein Kind aufgrund einer Behinderung vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen wird. Im vergangenen Jahr kassierte Deutschland von der UN eine Rüge, dafür dass es ziemlich flächendeckend an dieser Vision gescheitert ist. Das UN-Komitee zeigte sich unter anderem „besorgt, über die mangelnde Umsetzung einer inklusiven Bildung“ sowie über „die Hindernisse, auf die Eltern stoßen, wenn sie ihre gehandicapten Kinder auf eine Regelschule schicken wollen“.
Die Entwicklung der schulischen Inklusion in Deutschland beobachtet auch Fabian van Essen, Professor für Heilpädagogik und Inklusionspädagogik an der IU Internationalen Hochschule, die ihren Sitz in Erfurt hat. Zwar sieht er, dass es in Deutschland immer mehr Kinder mit einem sogenannten „Förderbedarf“ an staatlichen Regelschulen gibt. Das liege aber daran, dass immer mehr Kinder diesen Status zugebilligt bekommen. Die Zahl der Kinder, die getrennt in Förderschulen lernen, ist seit 2009 kaum gesunken. In einigen Bundesländern stieg sie sogar etwas an. „Es ist ein Armutszeugnis, was seit damals in Sachen Inklusion passiert ist“, resümiert van Essen.
Dabei wisse man aus Studien, dass die Schulleistungen aller Kinder in inklusiven Schulen überhaupt nicht gefährdet seien, sofern Inklusion gut umgesetzt werde. Im europäischen Vergleich wird in Deutschland besonders stark separiert. In Italien etwa gibt es nahezu keine Förderzentren. Portugal ist dabei, sie abzuschaffen. In Großbritannien haben die Schulen per Gesetz die Pflicht, angemessene Vorkehrungen zu treffen, um alle Kinder, die im Umkreis wohnen, aufnehmen zu können. In Deutschland hingegen wird von Schulen nicht erwartet, dass sie sich den Bedürfnissen von Kindern, die eine Behinderung haben, anpassen. Van Essen findet jedoch: „Wenn man eine Gesellschaft will, in der niemand ausgesondert wird, dann kann Schule ein hervorragender Ort,sein, Zusammenleben in Vielfalt zu lernen.“ Doch es fehle hier am politischen Willen, das zu ermöglichen.
Christiane Wendt sieht das ein wenig anders. Sie wurde vor zehn Jahren Schulleiterin der Fläming-Grundschule, nachdem sie dort bereits viele Jahre als Lehrerin unterrichtet hatte. In wenigen Wochen wird sie in Pension gehen. Nicht die Politik, sondern die ganze Gesellschaft müsse sich mehr für Inklusion einsetzen. Sie sagt das, weil sie schon ganz andere Zeiten erlebt hat.
Vielen Eltern geht es heute um Optimierung
In den 80er- und 90er-Jahren gab es Eltern, die keine Mühe scheuten, um zu erreichen, dass ihre Kinder auf diese damals so ungewöhnliche Schule gehen konnten. Kinder, die selbst keine Behinderung hatten. Manche, die mit ihren Kindern weiter weg wohnten, kamen auf die Idee, ihren künftigen Grundschüler unter der Wohnadresse von Friedenauer Familienmitgliedern anzumelden, damit die Kinder automatisch der Fläming-Grundschule zugewiesen wurden. Illegal war das, selbst die Polizei mischte sich ein. Aber die Eltern waren schlichtweg so begeistert von der Idee, dass alle Kinder gemeinsam lernen.
„Heutzutage werden die Kinder nicht mehr in erster Linie wegen des inklusiven Profils bei uns angemeldet“, konstatiert die Schulleiterin. Sie spürt keine offene Ablehnung dem Thema Inklusion gegenüber, so weit sei es nicht gekommen, sagt sie, aber es herrsche eben ein anderer Zeitgeist. Vielen Eltern würde es heutzutage um etwas anderes gehen, um Optimierung. „Es wird weniger geschaut, wie alle zusammen leben können, sondern wie das einzelne Kind am besten vorankommt.“
Für Wendt ist eine menschenwürdige Gesellschaft aber nur möglich, wenn sie inklusiv ist. „Es gibt bei uns Kinder, die werden nie etwas zu unserem Bruttosozialprodukt beitragen. Aber sie gehören in unsere Mitte.“
Hört man sich in der Klasse von Luisa Schön und des pädagogischen Mitarbeiters Tobias Meier um, wie die Jungs und Mädchen ihre Klasse so finden, bekommt man ein eindeutiges Stimmungsbild: „Unsere Klasse ist toll“, schwärmt ein Junge. „Man kann sich hier richtig wohlfühlen. Später werde ich mal alle vermissen“, pflichtet ihm sein Nebensitzer bei.
Am Ende der Unterrichtsstunde lässt Luisa Schön ihren Blick über die Klasse gleiten. Sie sieht die 19 Kinder, die sich in vielen anderen Schulen in dieser Konstellation niemals begegnet wären, und ist sich sicher: „Wenn ein Kind aus dieser Klasse zum Beispiel mal Architekt wird, dann wird es sicher kein Gebäude entwerfen, das nicht rollstuhlgerecht ist. Einfach, weil es so normal für sie ist, dass das dazugehört.“
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