Kirill Serebrennikovs Stück für Berlin: Der Raum des Erzählens

Die Liebe überwindet alle Hindernisse. Davon erzählt Kirill Serebrennikovs Inszenierung „Decamerone“ im Deutschen Theater Berlin.

Ein Mann und eine Frau auf der Bühne. Die Frau ist rennt aus dem Bild. Der Mann steht weiter hinten an die Wand gedrängt und öffnet den Mund. Vor ihm steht ein Bürostuhl. An der Wand ist ein Graf wie an der Wall Street.

Regine Zimmermann und Filipp Avdeev in einer Episode des „Decamerone“ Foto: Arno Declair

BERLIN taz | Der Stallbursche zum Beispiel redet russisch. Er hat sich in der dritten Episode des „De­camerone“ in die Königin verliebt, aber mehr, als neben ihrem Pferd zu gehen, ist zunächst nicht möglich. Doch dann wird die Stimme von Filipp Avdeev, der den Stallburschen spielt, immer aufgeregter, die Buchstaben der deutschen Übersetzung auf der Leinwand hinter der Königin (Regine Zimmermann) immer größer. Er hat beobachtet, wie der König nachts zur Königin mit einer Fackel kommt, dreimal an ihre Tür klopft und empfangen wird, und so macht er es dann auch und liebt sie eine Nacht.

Plötzlich glaubt man sich im Märchen, Avdeev erzählt weiter, einzelne Sätze vorsichtig auf Deutsch zwischenschiebend, wie der König den Betrug ahnt und allen seinen Dienern in der Nacht die Hand aufs Herz legt, um den zu finden, dessen Herz am lautesten klopft. Dem schneidet er Haare ab, um ihn am nächsten Morgen wiederzuerkennen. Aber dann stehen an diesem Morgen alle Diener mit einer kahlen Stelle vor ihm.

Regine Zimmermann gehört zum Ensemble des Deutschen Theaters in Berlin, Filipp Avdeev zum Gogol-Center, das Kirill Serebrennikov in Moskau leitet. Der Regisseur, der auch nach seinem Hausarrest Russland noch immer nicht verlassen darf, hat für den mit dem DT lange verabredeten „Decamerone“ in Moskau geprobt, die wirklich mit Spannung erwartete Premiere war am 8. März in Berlin.

Ein Probenprozess, der nicht zuletzt in einer Situation des politischen Drucks entstand, hat ein Stück hervorgebracht, glänzend vor Leichtigkeit und Witz. In Höchstform sind die Schaupieler:innen beider Ensembles. Selten vergeht die Zeit im Theater so schnell wie während der zehn Geschichten von Liebe und Betrug, die an zehn Novellen aus dem „Decamerone“ von Boccaccio angelehnt sind.

Agierende, Verführende

Wo Serebrennikov sie umgeschrieben hat, macht er die Rollen der Frauen als Agierende, Verführende, Begehrende stark. So sind es in der sechsten Episode nicht mehr zwei Geschäftspartner, die um die Ehefrau des einen als Zugabe verhandeln, sondern zwei Frauen, von denen die wirtschaftlich stärkere den Ehemann ihrer Juniorpartnerin begehrt. In einem verabredeten Gespräch schweigt er (Jeremy Mockridge) und flüchtet sich in Fitnessgymnastik. Sie aber gesteht ihm nicht nur ihr brennendes Verlangen, sondern deutet seine Stummheit aus als Zusage, die sie ihm im Rhythmus seiner Bewegungen quasi auf den Leib schneidert.

Von Liebe und Sex zu erzählen ist bei Serebrennikov wirklich Erzählkunst. Nicht die Bilder drängen ins Explizite, Pornografische, aber der ekstatische Rhythmus der Sprache findet sehr wohl seine Höhepunkte. Der Kampf um Jugendlichkeit, Fitness, Attraktivität bildet dabei einen Rahmen, alle Szenen sind in einem Trainingsraum verortet, das Alter wird bekämpft. Anweisungen für Atemübungen schieben sich in die Dialoge und Geschichten, sie steigern und konterkarieren, was gerade erzählt wird. Die Szenen werden so einerseits mehrdeutig, andererseits witzig in ihrer Persiflage des angesagten Körperkults.

Das gedoppelte Stöhnen

In der Episode um einen Mann, der zum Heiligen werden will und den Weg der Askese einschlägt, ist die Erzählerin seine nun ebenfalls zur Keuschheit verdonnerte Frau (Almut Zilcher). Die allerdings bald entdeckt, dass der ihren Mann im Glauben bestärkende Don Felice sich mit ihr sehr gern eine schöne Zeit macht. Das Stöhnen des sich Kasteienden und das der Liebenden nehmen bald ähnliche Formen an.

Mit dabei ist auch die Diseuse Georgette Dee, Pionierin der Kunst des Transgenderns, die von den Träumen einer Frau und denen ihres Mannes erzählt; sie ersehnt sich die Wildheit eines Wolfes, er träumt, sie davor zu retten. Der Text ist eine dramatische Ballade, die ein langes Leben voll mit Liebeslügen in wenige Zeilen presst.

In Serebrennikovs Inszenierung wandern die Geschichten durch die Jahrhunderte, sind im Mittelalter zu Hause, im Kapitalismus, in der Liebe in Zeiten des Internets. Yang Ge und Georgiy Kudrenko begegnen sich in einem Chatroom, Wort für Wort erscheinen ihre Sätze auf Deutsch auf großen Screens, während sie russisch reden, Schrift und Übersetzung sind hier als ästhetische Mittel immer mitgedacht. Sie lässt ihn frieren, nackt im Schnee, als Beweis seiner Liebe, und stellt die Bilder ins Internet. Der Unglückliche wird sich rächen.

Am Ende wären wohl ein, zwei Episoden verzichtbar gewesen. Doch vor allem ist man überrascht über diesen so zugänglichen Theaterabend, der unter so schwierigen Voraussetzungen entstand. Sucht man nach einer politischen Botschaft, so liegt die wohl vor allem im Zustandekommen des Stücks selbst, dem Mut, sich von allem Druck und Drohgebärden nicht unterkriegen zu lassen.

Man ist auch bezaubert vom Charme der russischen und deutschen Schauspieler:innen, das Liebeswerben in ihren Rollen erwärmt auch das Zuschauerherz. Die Liebe, so sagt Georgette Dee ungefähr am Schluss, sie habe sie nie verstanden, aber doch machten die Menschen immer damit weiter. Vielleicht geht es ja auch darum, um die Kraft des Weitermachens und sich mit der Kunst des Erzählens eigene Räume zu schaffen.

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