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Künstler Friedhelm Welge, Pastor Jörg Schulze, und die Betroffenen Silke Ottersbach, Uwe Rüddenklau vor der Skulptur (von links) Foto: Andreas Behr

Kinderverschickung nach BorkumUngewolltes Erinnern

Auf Borkum gab es Kurheime, in denen zehntausende Kinder Leid erfuhren. Bis heute tut sich die Insel schwer damit. Nun gibt es einen Erinnerungsort.

Sabine Seifert
Von Sabine Seifert aus Borkum

D ie Nacht vor der Abreise hat Friedhelm Welge nicht geschlafen. Um fünf Uhr in der Früh am Dienstag vor einer Woche hat der 73-Jährige seine Wohnung in Frankfurt am Main verlassen und ist am Bahnhof in den Zug gestiegen, um mittags in Emden die Fähre nach Borkum zu erwischen. Die Nordsee­insel, die er eigentlich nie wieder betreten wollte. Sechs Wochen verbrachte er hier als Fünfjähriger auf Kinderkur. Welges Erinnerungen daran sind schemenhaft, blitzmäßig grell, quälend. Nun hat er sie mit seinen Mitteln als Künstler zu verarbeiten versucht, seine Gefühle von damals in weißen Travertinstein gehauen.

„Es hat in mir gearbeitet, auch wenn ich es lange verdrängt habe“, sagt er. Die Skulptur hat Welge „Ängstliches Verschickungskind“ getauft. Sie soll am nächsten Tag der Öffentlichkeit als Erinnerungsort zugänglich gemacht werden. Ein Kraftakt nicht nur für ihn, sondern für eine ganze Gruppe ehemaliger Verschickungskinder, die nicht von Anfang an Unterstützung auf der Insel für ihr Vorhaben fanden.

Zwischen neun und zwölf Millionen Kinder sind zwischen 1949 und 1989 in der Bundesrepublik zur Kinderkur geschickt worden. Allein, mit kleinem Gepäck wurden sie auf Anraten von Ärzten, Jugend- und Gesundheitsämtern meist präventiv auf Erholungskur geschickt. Oft weit weg, in die Berge oder an die Küste. Um zuzunehmen, um als Stadtkinder ihre blasse Gesichtsfarbe zu verlieren, um bronchialen Erkrankungen vorzubeugen. Die Kinder erfuhren oftmals psychische und physische Gewalt, Demütigungen.

Bundesweit gab es bis zu 2.000 Kinderkurstätten

Auch ich war ein Verschickungskind, auch ich war auf Borkum, sogar im gleichen Heim wie Friedhelm Welge, aber einige Jahre später. Viele Städte hatten sogenannte Entsendestellen. Die Bahn übernahm die Transporte. Krankenkassen oder Versicherungsträger zahlten. Wohlfahrtsverbände, Kommunen oder kirchliche Einrichtungen betrieben Kinderkurheime. Ein Drittel der Heime wurden privat geführt, unterstanden aber der Kontrolle der Landesjugendämter, die im Fall der Nordseeinseln weit weg waren.

Mehrfach musste Friedhelm Welge auf der Kinderkur so lange vor seinem Teller sitzen, bis er das von ihm Erbrochene aufgegessen hatte

Die Hoch-Zeit der Kinderverschickung waren die kinderreichen 1960er Jahre. Bundesweit gab es zeitweise bis zu 2.000 Kinderkurstätten, wie eine neue Studie der Humboldt-Universität zeigt. Auf Borkum existierten 33 Kinderkurheime, große und kleine, mit insgesamt 1.500 Plätzen. Groß wie das katholische Kinderkurheim Sancta Maria, wo Friedhelm Welge mehrfach so lange vor seinem Kinderteller sitzen musste, bis er das von ihm Erbrochene aufgegessen hatte. Oder das von der Diakonie betriebene Adolfinenheim, wo Silke Ottersbach und Uwe Rüddenklau eine dunkle Zeit verbrachten. Auch die beiden sind zur Einweihung der Erinnerungsstätte Ende Juli nach Borkum gekommen, beide haben viel dafür getan.

„Ich habe hinterher kaum noch gegessen und gesprochen“, erinnert sich der 61-Jährige Uwe Rüddenklau, Vorsitzender der Bundesinitiative Verschickungskinder. „Ich kam vom Bauernhof, meine Familie wunderte sich“, erinnert er sich. „Aber reden war ja verboten gewesen. Wir mussten uns für die Mahlzeiten mit den Händen hinter dem Rücken vor dem Tisch aufstellen und auf das Kommando ‚Jetzt essen‘ hinsetzen – und alles aufessen.“

Ich verschloss mich völlig. Meine Kindheit war nach den sechs Wochen zu Ende

Silke Ottersbach, Ehemaliges Kurkind, über ihre Zeit in Borkum

Silke Ottersbach konnte im Anschluss an die Kur jahrelang nicht weinen, erzählt sie. „Jegliche Verspieltheit und Leichtigkeit des Kindseins war weg“, erinnert sich die 55-Jährige. „Ich verschloss mich völlig. Meine Kindheit war nach den sechs Wochen zu Ende.“ Ottersbach war damals neun Jahre alt und begleitete ihre ältere Schwester, die in einem anderen Haus untergebracht war und nach eigener Auskunft „eine gute Zeit“ hatte. Geschwister wurden prinzipiell getrennt. Ottersbachs Eltern glaubten der Schwester.

Dass es nun einen Erinnerungsort auf Borkum für die Geschichte der Kinderverschickung gibt, nahm seinen Anfang im November 2021, als sich die bundesweite Initiative der Verschickungskinder auf Borkum zu einem Kongress traf. Dort lernten sich auch Welge, Rüddenklau und Ottersbach kennen. Es bildeten sich sogenannte Heimortgruppen zum Erfahrungsaustausch. Und wer nach Borkum verschickt worden war, konnte während des Kongresses losziehen und nachschauen, was aus seinem oder ihrem ehemaligen Heim geworden ist. Auch die taz war damals dabei und berichtete.

Entschuldigte sich bei den Betroffenen: Ordensschwester Maria Cordis Reiker Foto: Stefan Müller

Das Kinderkurheim Sancta Maria ist heute eine Mutter-Kind-Klinik und wird noch immer vom Orden der Franziskanerinnen in Thuine betrieben. Mir ist es beim Kongress anhand von Fotos gelungen, das Sancta Maria als „mein“ Heim zu identifizieren. Wir Mädchen schliefen in Baracken, die in den Dünen standen. Das Haus selbst, ein großer weißer Kasten im Stil eines Kurhotels, bleibt mir auch 2025 fremd. Doch der Sportplatz, der sich dort befindet, wo früher die Baracken gestanden haben könnten, und die grasbewachsene Dünenlandschaft lösen etwas in mir aus. Wie ich im Freien das Laken im kalten Wasser eines Blecheimers auswaschen musste, vor der Gruppe, weil ich nachts ins Bett gemacht hatte. Es muss nicht hier gewesen sein, könnte aber so stattgefunden haben. Im kalten Frühjahrswind, ich war fünfeinhalb Jahre alt. Dieses Gefühl der Beschämung überblendet bis heute alle anderen Erinnerungen.

Im Laufe der 1980er Jahre nahm die Zahl der Kinderkuren rapide ab. Heute gibt es Mutter- oder Vater-Kind-Kuren, so auch im Sancta Maria. Friedhelm Welge ist ebenfalls 2021 dort vorbeigegangen. Er habe es wiedererkannt, sagt er. Erinnerungen an die strengen Nonnen kamen hoch. Damals zeichnete er den schmalen Strandzugang durch die Dünen, von schwarzen Strichen wie dem Habit der Nonnen flankiert. Die Skizze versenkte er auf der Rückfahrt im Meer. „Dieser Akt war wohl nicht nachhaltig genug“, sagt der gebürtige Krefelder jetzt. Da musste wohl noch die Skulptur in Angriff genommen werden.

Am Vorabend der Einweihung am 30. Juli geht Welge „ein bisschen aufgeregt“ zur geplanten Erinnerungsstätte in der Borkumer Süderstraße. Am Ortsrand gelegen, führt sie direkt zum Südstrand, wo die Strandpromenade beginnt. 5.200 Menschen leben in und auf Borkum; die westlichste der ostfriesischen Inseln hat nur eine Gemeinde, ein Zentrum. Drei Leuchttürme, drei Kirchen, ein Heimatmuseum, mehrere Kliniken, eine folkloristische Inselbahn, viele Hotels und Ferienwohnungen. Der Bädertourismus, der bereits im 19. Jahrhundert einsetzte und wo man schon vor dem Ersten Weltkrieg keine jüdischen Gäste zu empfangen wünschte, ist die ausschließliche Einnahmequelle. Jetzt, Ende Juli, ist Hochsaison, überall rumpeln Kinderwagen und Fahrräder übers Pflaster, die Eisdielen sind trotz des nassen Wetters voll.

Die Gemeinde stellte keinen Ort für die Skulptur

Welges Skulptur ist noch unter einer grünen Plane verborgen. Der Bildhauer lupft eine Seite und zuckt zusammen, da die 1,53 Meter hohe, aber schmale Figur nicht ganz gerade oder fest zu stehen scheint. Lokale Handwerkerinnen sollten sie mit der schräg verlaufenden rostfarbenen Stahlplatte verschrauben, auch das ein Entwurf Welges. In die Platte wurde ein Text gelasert, der das Phänomen der Kinderverschickung erklärt. Die Skulptur zeigt den Oberkörper eines Kindes mit aufgerissenem Mund und hoch erhobenen Armen. Expressiv und abstrakt zugleich. „Du kannst als Künstler nicht nur als Betroffener agieren“, erklärt Welge, meist mit Käppi und Sonnenbrille unterwegs. „Man braucht eine Energie, die in jedem Fall von der eigenen Betroffenheit abstrahiert.“ Es ist ihm gelungen.

Um Passanten einen Moment des genaueren Hinschauens oder Verweilens zu ermöglichen, wurde der Platz vor der Installation mit roten Steinen neu gepflastert. Links befindet sich ein Friedhof, rechts erhebt sich der Neubau einer Kita. Dort stand früher das Adolfinenheim, das lange von evangelischen Diakonissen betrieben wurde. Schon 1921 als Kinderheilstätte gegründet, durchliefen es in den sieben Jahrzehnten seines Bestehens insgesamt 90.000 Kurkinder. 1996 wurde es geschlossen, das Haus abgerissen. 2022 gab die Diakonie Niedersachsen eine Studie zur Aufarbeitung der Geschichte des Heims in Auftrag. Auch Silke Ottersbach und Uwe Rüddenklau steuerten Erfahrungsberichte bei. Nach der Veröffentlichung kam es zu einem Treffen zwischen ehemaligen Kurkindern des Adolfinenheims und der Dia­konie in Bremen. „Damals entstand der Wunsch, einen Erinnerungsort zu schaffen, der an das Leid der Borkumer und aller Verschickungskinder erinnert“, sagt Ottersbach. Die Diakonie Niedersachsen sagte finanzielle Unterstützung zu.

Ursprünglich hatte sich die Borkum-Austauschgruppe einen zentralen Erinnerungsort gewünscht, vielleicht am Bahnhof, wo die Kinder mit der Inselbahn ankamen. Doch die Stadt Borkum ist ihnen diesbezüglich nicht entgegengekommen. In einer Mail des parteilosen Bürgermeisters Jürgen Akkermann an die In­itia­to­r*in­nen hieß es, es gebe schon mehrere Erinnerungsstätten auf der Insel, man habe keine öffentlichen Flächen dafür. So berichtet es Uwe Rüddenklau. Die Enttäuschung war groß. Immerhin hatte die Stadt Borkum 2021 ihre Kulturinsel für den Kongress der Verschickungskinder zur Verfügung gestellt.

Man tut sich schwer mit der Vergangenheit der Insel. Warum ist das so?

„Die lange Tradition der Kinderkuren ist ein vergessenes Kapitel der Borkumer Geschichte“, heißt es in der Einleitung zur Studie „Zwischen Zwang und Erholung“ über das Adolfinenheim, verfasst von Achim Tischer und Gerda Engelbracht. „Während in den offiziellen Darstellungen die auch heute noch betriebenen Rehabilitationseinrichtungen genannt werden, findet sich kein einziger Hinweis auf die zahlreichen Kinderkurheime. Dabei hatten die Heime für die Insel fast ein Jahrhundert lang eine erhebliche – auch wirtschaftliche – Bedeutung.“ In den Kinderkurheimen arbeiteten Menschen aus Borkum: in der Küche, bei der Betreuung, als Zulieferer. Die Heime waren „Arbeitgeber, Steuerzahler, Kunden“, so die Studie.

„Die Angst, den Tourismus zu schädigen, sitzt bis heute tief“, sagt Inselpastor Jörg Schulze. „Das steckt in den Köpfen fest.“ Von Anbeginn unterstützte Schulze die Anliegen der ehemaligen Borkumer Verschickungskinder – sei es bei Archivanfragen, sei es mit findigen Lösungen für Probleme mit der Inselverwaltung oder lokalen Gewerken.

Die Kirche stellt sich der Vergangenheit

Am Vorabend der Einweihung treffen sich externe und lokale In­itia­to­r*in­nen bei Fischsuppe oder gegrilltem Fisch. Auch Pastor Schulze sitzt dabei. Nachdem er 2011 seinen Dienst angetreten hatte, sorgte er dafür, dass 2014 am Gemeindehaus eine Plakette angebracht wurde, die kritisch die Rolle seiner eigenen Kirche hinterfragt. Einer seiner Vorgänger, Ludwig Münchmeyer, predigte ab den 1920er Jahren Antisemitismus von der Kanzel – als Pastor der evangelisch-lutherischen Christuskirche auf Borkum, an der Schulze jetzt arbeitet. „Sie machen sich langsam unbeliebt“, habe man ihm damals auf der Straße zugeflüstert, erinnert er sich.

Luftansicht von Borkum aus dem Jahr 1966, im Vordergrund das Adolfinenheim Foto: Diakonie Bremen/epd

Antisemitismus und Nationalsozialismus, das sind düstere Kapitel der Borkumer Geschichte. Auch da gibt es Querverbindungen zur Kinderverschickung. Auf dem evangelisch-lutherischen Friedhof der Gemeinde liegt der ehemalige Leiter des Kinderkurheims Möwennest. Werner Scheu war ein SS-Mann, der sich nach Kriegsende als Arzt auf Borkum niederließ. 1960 flog er auf und wurde erstinstanzlich zu nur sechs Jahren Haft verurteilt – als „Gehilfe“ und nicht als Täter bei der Ermordung von über 200 jüdischen Zwangsarbeitern in Litauen. Der BGH hob das skandalöse Urteil später auf. Seine Frau Anne-Liese leitete das Kinderkurheim weiter.

Das Gelände gleich neben dem Friedhof, wo Scheu begraben liegt, gehört der Kirche. Als sich die Borkum-Austauschgruppe ratlos an den Inselpastor wandte, weil man bei der Stadt keine Unterstützung für einen Standort für das geplante Mahnmal fand, kam Schulze auf die Idee, diesen Ort dafür umzugestalten. „Das war unser Rettungsanker“, sagt Silke Ottersbach. Der Pastor brachte den Vorschlag im Kirchenvorstand ein, die Ökumene stimmte schnell und einstimmig dafür. So kann es auch gehen.

„Wir beschäftigen uns sehr mit der Geschichte der Insel“, hält Borkums Bürgermeister Jürgen Akkermann auf Nachfrage der taz entgegen. Er hat seine Teilnahme an der Einweihung angekündigt, wird eine Rede halten. „Es braucht eine differenzierte Sicht auf die damalige Zeit“, erklärt er. Man dürfe nicht vorschnell verallgemeinern. „Viele haben nicht hingesehen, beziehungsweise man ordnete Vorgänge, gemessen am damaligen Zeitgeist, anders ein.“ Und die Stadt habe keine eigenen Heime betrieben. Im Adolfinenheim hatten die früher ehrenamtlichen Bürgermeister aber einen Sitz im Aufsichtsgremium. Dass er bei der Einweihung spreche, sagt Akkermann, sei „auch eine Botschaft an die Bevölkerung, die den Gedenkort durchaus kritisch sieht“. Viele fürchteten, die Insel und die damaligen Mitarbeiterinnen würden zu Unrecht stigmatisiert. „Es gab auch viele positive Beispiele in vielen anderen Heimen.“

Auf die Anfrage der Borkum-Austauschgruppe, ob die Gemeinde und die Diakonie 10.000 Euro und die Franziskanerinnen 5.000 Euro für die Gedenkstätte und eine mögliche Broschüre beisteuern können, gab es ein positives Gespräch im Vorfeld, heißt es aus der Gruppe. Dann aber sei es lange stumm geblieben. Schließlich schoss die Gemeinde eine kleine Summe bei. Haushaltssperre, heißt es offiziell. „Wir hätten uns gewünscht, dass uns die Gemeinde Wege aufzeigt, Alternativen zu finden“, sagt Uwe Rüddenklau.

Esszwang und Briefzensur

Borkum war nicht die einzige Nordseeinsel mit zahlreichen Kinderkurheimen. Hatten die Nordseeinseln etwas Spezifisches? „Ihnen allen ist gemein, dass die Kinderkurheime wirtschaftliche Bedeutung hatten. Dass die Einrichtungen sehr konzentriert auf engem Raum und schwer zu erreichen waren. “ Das sagt am Telefon Helge Pösche, der im Team des Historikers Professor Alexander Nützenadel von der Berliner Humboldt-Universität an einer über 700 Seiten dicken Studie „Zur Geschichte der Kinderkuren und Kindererholungsmaßnahmen in der BRD zwischen 1945 und 1989“ mitgearbeitet hat. Pösche hat sich mit der Insel Norderney beschäftigt. Gibt man in der Studie „Borkum“ als Stichwort ein, tauchen 44 Einträge auf. Mehrfach auch das Heim Sancta Maria mit Berichten zu Esszwang und Briefzensur. Auch gab es Beschwerdebriefe von Eltern zu Prügelstrafen.

Entstanden ist die Studie im Auftrag der Deutschen Rentenversicherung und der Diakonie, des Deutschen Roten Kreuzes und der Caritas, drei der großen Wohlfahrtsverbände. Im Mai 2025 wurden die Ergebnisse präsentiert. Das nüchterne Fazit: Es gab „verbreitete und strukturell bedingte Missstände“, oft verursacht durch überalterte Leitungen, Personalmangel, schlechte Infrastruktur. Entsendestellen und Behörden hätten auf Beschwerden selten reagiert.

Auf viele – nicht alle – Heime mag der soziologische Begriff der „totalen Institution“ zugetroffen haben, waren sie doch eine abgeschlossene Welt und der sozialen und amtlichen Kontrolle entzogen. Der Begriff ist strittig. Beim Borkumer Adolfinenheim kommt die Diakonie-Studie zu dem Ergebnis, dass die Kriterien einer „geschlossenen Institution“ zutreffen. Der Berliner Historiker Pösche wünscht sich, dass exemplarisch mehr einzelne Heime unter die Lupe genommen werden. „Es gab große Unterschiede zwischen ihnen“, sagt er. „Wie kam es dazu? Und wie unterschieden sich die Kinderkurheime von anderen pädagogischen Einrichtungen jener Zeit? Haben sich hier veraltete pädagogische Standards länger gehalten als woanders?“ Fragen über Fragen. „Das Kinderkurwesen ist noch lange nicht ausgeforscht“, sagt der Historiker.

Seit 2019 organisieren sich ehemalige Verschickungskinder, es gibt einen Forschungsverein und den jährlichen Kongress, Regionalgruppen und Video-Meetings zum Austausch über einzelne Kurorte. Seit einigen Jahren nehme ich sporadisch an den Treffen der Borkum-Austauschgruppe teil. Noch immer stoßen neue Ehemalige dazu. Manche suchen ihr Heim, manche erinnern Namen, Gerüche, Besenkammern, andere erinnern so gut wie gar nichts. Ich selbst habe durch diese Treffen und die Berichte anderer gelernt, dass es nachts ein Toilettenverbot in den Heimen gab. Daran erinnerte ich mich nicht, nur an das Ergebnis.

„Ein Moment der Versöhnung“

Am 30. Juli, um 11.30 Uhr, ist es so weit. Es ist bewölkt, stürmisch, dennoch sind rund 80 Menschen zur Einweihung der Gedenkskulptur gekommen. Friedhelm Welge entfernt die grüne Plane von der Installation, er spricht ein Gedicht und erklärt, dass, wer mag, symbolisch einige Muscheln unter der Skulptur ablegen könne. Pastor Schulze und sein katholischer Kollege sprechen den Segen, ihr Talar weht im Wind. Auch Schwester Maria Cordis Reiker ist gekommen, die Generaloberin des Thuiner Franziskanerinnenordens. Beim anschließenden Empfang bei der benachbarten Feuerwehr spricht auch sie und entschuldigt sich bei den Betroffenen für das in Sancta Maria erfahrene Unrecht und Leid. Die Generaloberin wendet sich an den Bildhauer direkt: „Sie haben einen Ort und einen Ausdruck für Ihre eigene Verfassung gefunden. Wir haben einen Ort gesucht, der unsere Trauer und Beschämung ausdrückt.“

Friedhelm Welge ist nach der Veranstaltung erleichtert. „Ich bin zufrieden mit der Eröffnung“, sagt er. „Weil ich bemerkt habe, dass man die Menschen damit berührt. Aber ob ich noch mal wiederkomme, das weiß ich nicht.“

Für Silke Ottersbach und Uwe Rüddenklau geht die Arbeit weiter. „Es war kein Punkt, sondern ein Komma und heute ein Ausrufezeichen“, sagt Rüddenklau in seiner Ansprache. „Ein Moment der Versöhnung.“ Pastor Jörg Schulze wird Ende August in den Ruhestand gehen und die Insel verlassen. „Wir brauchen Erinnerungsorte“, sagt er, „wo wir unserer Geschichte und damit uns selbst begegnen“. Die stellvertretende Bürgermeisterin, sie hat sich extra freigenommen an diesem Tag, will dem Heimatverein das Thema Kinderverschickung für eine Ausstellung vorschlagen.

Im Archiv des Vereins dürften noch Unterlagen zu finden sein.

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1 Kommentar

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  • Nach so einer Kur, damals muss ich so etwa 6 Jahre alt gewesen sein, saß ich mit meiner Mutter beim Nachgespräch der verschickenden Institution und wurde gefragt, wie es mir denn im Bad Wörishofen gefallen hätte. Ich antwortete: "Überhaupt nicht!" Die Dame klappte die Akte auf, blätterte darin, sah meine Mutter dann an und erwiderte: "Er hat aber doch zugenommen!"

    Ich finde, mehr muss ich dazu nicht schreiben!