Kindertheater im öffentlichen Raum: Von Möhren und Monstern
Das Theaterstück „Fundstadt“ zeigt die Welt aus Sicht von Kindern. Dabei erschließt es geheimnisvolle Schleichwege von Bremen bis nach Gelsenkirchen.
H inauf auf verwunschene Hügel steigt der Weg, durch wucherndes Gras auf verwaisten Spielplätzen, unter Parkbänke und über einsame Hinterhöfe: In die „Fundstadt“ führen nur Schleichwege. Dabei sind wir eigentlich mitten in Bremen, ganz nah der Innenstadt, wo es zwar recht hübsch ist, aber bestimmt nicht magisch und unter uns gesagt auch sonst nicht sonderlich aufregend. Heute aber schon. Ja, selbst die am sonnigen Wochenende in Scharen herumstolpernden Touris wirken so sonderbar unergründlich, als hätten sie ein Geheimnis – oder spannender noch: als würden sie unsere Geheimnisse kennen.
„Fundstadt“ ist ein Theaterprojekt im öffentlichen Raum, ausgerichtet vom Bremer Stadttheater, organisiert und durchgeführt vom Hiatus-Kollektiv und Kindern, die von hier kommen oder aus Gelsenkirchen, wovon später noch die Rede sein wird. Erst mal aber klingt treffender, dass die Produktion im Nirgendwo spielt, oder jedenfalls sehr erfolgreich darin ist, das Bremen drumrum aufzulösen.
Zumindest die technische Seite des Zaubertricks ist dabei im Grunde ganz einfach erklärt. Ausgehend vom Brauhaus im Innenhof des Theaters wird das Publikum mit Tablets um den Hals in die Umgebung ausgesandt, um sich von Foto zu Foto durch beschauliche Altbau-Seitenstraßen zu manövrieren. Die Schnitzeljagd führt durchs Grün hinter der berühmten Kunsthalle, über die Altmannshöhe an die Weser und von da noch weiter.
Unterwegs lassen sich an verschiedenen Stationen versteckte QR-Codes scannen, die zu Videos führen, die Piet Eschs und Aike Stuarts mit jungen Akteuren gedreht haben. Und auch in der Echtwelt drumherum sind immer wieder freilaufende Menschen zu entdecken, die sich irgendwie sonderbar verhalten. Sie spielen dann entweder Trompete vom Balkon oder führen am Handy lautstark genau jene Diskussionen fort, die eben noch im Video ums Eck begonnen hatten.
Renaissance der frischen Luft
Audio- oder Videowalk heißt das Format, das zwar schon eine ganze Weile zu den Theaterstandards zählt, gerade unter Coronabedingungen aber eine kleine Renaissance erlebt hat. Die Gründe liegen auf der Hand: Virenangst trieb das Publikum raus an die frische Luft, und umgekehrt konnten die mitunter arg gebeutelten Kulturinstitutionen endlich wieder auf die lange verwehrte Sichtbarkeit in der Öffentlichkeit hoffen.
Für die „Fundstadt“-Premiere in Bremen haute das hin, nicht nur der Part fürs Publikum, sondern auch für ganz normale Spaziergänger:innen, die sich urplötzlich zwischen Menschen mit bunten Capes, Kopfhörern und umgehängten Tablets wiederfanden, die auf der Suche nach aufgeklebten QR-Codes um Parkbänke schlichen, Laternenpfähle und Mülleimer inspizierten.
Die eigentlichen Stars der Produktion waren dann aber doch die Kinder und Jugendlichen, die in Bremen übrigens auch sonst eine außerordentlich hochwertige und erfolgreiche Sparte des Stadttheaters bespielen. Sie waren schon Wochen vorher mit Duri Collenberg, Uta Plate und Lukas Rickli von Hiatus durch die Stadt gezogen und hatten ihre Lebenswelten präsentiert: räumliche wie emotionale. Gemeinsam mit den Theaterleuten haben sie je ein „Ding“ erschaffen und ein Video darüber gedreht. Ali hat eine gespenstisch leuchtende Kiste entworfen, die er vor unsichtbaren Verfolgern in den Eingeweiden eines Hochhauses verstecken muss.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Jason wiederum trifft sein außerirdisches Monster mit Krebsscheren in einem bunt ausgeleuchteten Keller. In einem weiteren Video fällt einfach eine Möhre vom Himmel, die noch viel kompliziertere Geheimnisse birgt. Das Filmgemüse begegnet uns später nämlich auch außerhalb des Videos als Staffelstab, den sich scheinbar zufällig über den Weg rennende Kinder zuwerfen.
Spätestens auf dem Hügel an der Weser sind die Theatergänger:innen auch längst nicht mehr die Einzigen, die sich hier niederlassen. Gleich neben der versteckten Videostation sitzt schon eine Gruppe auf Klappstühlen im Kreis und schielt immer wieder heimlich herüber. Und wir zurück: Man fragt sich schon, ob die wohl auch dazugehören. Hat die eine nicht eben auch so sonderbar wissend gelächelt? Aber nein, sie prostet uns mit ihrem im Jugendtheater doch eher deplatzierten Schnapsglas zu und verzieht angestrengt die Miene. Ihre Tour ist eine Gin-Probe und nur zufällig zur selben Zeit am selben Ort angelandet.
Und doch hat der kurze gemeinsame Moment etwas am Blick auf die Umwelt geändert. Aus dem grundsätzlichen Misstrauen urbaner Erwachsener ist ganz kurz so was wie echte Neugier geworden.
Die Logistik des Verlaufens
Für die clevere Logistik des Theaterspaziergangs spricht, dass man diese Entdeckungsreise weitgehend allein oder zu zweit bestreitet und nur gelegentlich auf andere Teilnehmer:innen trifft, die auf je eigenen Pfaden durch die „Fundstadt“ geführt werden – und damit selbst zu kuriosen Begegnung am Wegesrand werden, die unterm Strich auch gar nicht weniger irritieren als das Krebsmonster aus Jasons Video.
Die Sache klingt nun ehrlich gesagt schon ein bisschen kitschig: die Welt mit Kinderaugen zu sehen und ein bisschen diesen Zauber zu bergen, der irgendwann und irgendwie einmal verschütt gegangen sein muss. Aber genau so fühlt es sich eben an, wenn die ersten Irritationen darüber aufkommen, was hier eigentlich Theater ist – und was vielleicht doch ganz einfach so zur Welt gehört.
Bemerkenswert ist die Nachhaltigkeit dieser Erfahrung. Auch wer hier ein paar Tage später durchs Gelände stapft, entdeckt noch Spuren der Aufführung und ertappt sich immer wieder dabei, nach Pfaden in die „Fundstadt“ zu spähen. Und auch wenn sich das so leicht sagt: Theater (die Künste überhaupt!) bekommt so was nur sehr, sehr selten wirklich hin.
Die Produktion ist Teil von NOperas!, einer Förderinitiative für Neues Musiktheater, die in Bremen bisher mit zweieinhalb Produktionen zu erleben war. „Kitesh“ und „Obsessions“ waren auf der Bremer Bühne zu sehen, das Corona-Opfer „Chaosmos“ immerhin als nachgeholtes Videotheater im Netz. Der musikalische Anteil der aktuellen Produktion ist nun etwas dezenter als bei den Vorgängern, darum aber nicht weniger wirkmächtig. Die Kinder haben am Smartphone assoziative Klangwelten geschaffen und diese in enger Zusammenarbeit mit professionellen Instrumentalist:innen in umsetzbare Formen gebracht.
Schleichweg nach Gelsenkirchen
Und mit der Musik wären wir dann übrigens endlich in Gelsenkirchen angelangt, weil NOperas!-Produktionen immer zwischen verschiedenen Theaterhäusern entstehen. Bremen hat soeben die Premiere an der Weser gestemmt, weitergespielt wird „Fundstadt“ nun aber am 17. und 18. Juni im Ruhrpott: beim Musiktheater im Revier, wo die Pfade nicht mehr durchs altstädtische Grün, sondern in eher gräuliche Häuserschluchten führen.
Kurz zu sehen waren die freilich auch schon in den Videos der Gelsenkirchener Kinder auf dem Tablet. Und das ist keine produktionstechnische Notwendigkeit, sondern ein ganz wesentliches Moment der andersweltlichen Erfahrung. Mag ja sein, dass der Plattenbau im Video auf Anhieb nicht nach Bremen aussieht, aber ganz sicher ist man eben doch nicht. Und während man sich körperlich noch in den verwinkelten Gässchen des Bremer Steintorviertels verläuft, hat das Hirn längst angefangen, die Kennzeichen im Video vorbeifahrender Autos zu scannen: Steht da HB, oder doch GE?
Und auch die Erzählungen der Kinder wirken mit der Zeit immer weniger universell, auch wenn sie an der Oberfläche sehr ähnliche Probleme haben. Das Video einer Schülerin führt uns etwa an eine Brache in Gelsenkirchen, wo früher ihr Schwimmbad stand und dann eine Polizeischule gebaut werden sollte. Großeltern im Ruhrpott haben kaputte Lungen vom Schuften unter Tage – und wenig Geld, weil mit dem Ende der Industrie zwar die Luft besser, aber auch die Arbeit rar wurde.
Nun gut: Arme Kinder gibt es in beiden Städten erstens viel zu viele und zweitens auch mehr als anderswo in Deutschland.
Aber gerade der visuelle Kontrast zwischen Bremens Hochkultur-Quartier und der Ruhrpott-Platte, die man eben zugleich durchwandert, lässt sehr subtil und sehr tief einsickern, was das für Kinder heißt. Auch wenn die gerade ganz andere Sorgen haben, wie Ärger mit der Schule etwa oder die ja auch herzerwärmende Frage, ob man als Tierärztin später eigentlich einen Freund haben könne, wenn man sich im Zweifel doch nicht um den, sondern um einen kranken Leopard zu kümmern habe.
Ob mit „Fundstadt“ nun die Neuerfindung des Musiktheaters vollzogen wurde, sei mal dahingestellt. Viel wichtiger – und dann eben auch gar nicht mehr kitschig – ist, wie nachhaltig ein Theaterstück von Kindern den Blick auf die Welt verändern kann: über Generationen hinaus, über Stadtgrenzen hinweg und auch lange, nachdem das Stück eigentlich vorbei ist.
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