Kindersport in der Pandemie: Ansteckende Zweifel
Der Bundestag verhandelt über ein Verbot von Kinder-Teamsport bei zu hohen Coronazahlen. Ein Umdenken der Regierungsparteien deutet sich an.
Möglicherweise ist der Hilferuf der Wissenschaftler:innen doch noch angekommen. Dagmar Freitag, die sportpolitische Sprecherin der SPD-Fraktion, sagt der taz: „Was die Bedeutung von Sport und Bewegung angeht, werbe ich stets dafür, diese wichtigen Aktivitäten zu ermöglichen, ohne allerdings das Infektionsgeschehen auszublenden. Die Wissenschaft gibt uns hier viele Hinweise, was möglich sein kann und was unterlassen werden sollte.“
In dem Entwurf für ein verändertes Infektionsschutzgesetz, der von der Bundesregierung und damit auch von der SPD verfasst wurde und an diesem Freitag erstmals im Bundestag verlesen wird, kann man bei den Vorgaben für den Sport allerdings keine wissenschaftlich fundierten Risikoabwägungen erkennen. Das bislang mögliche kontaktlose Kinder-Teamsporttraining soll untersagt werden, wenn der Inzidenzwert in einem Landkreis/einer Stadt pro 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen den Schwellenwert von 100 drei Tage lang übersteigt. Erlaubt ist dann lediglich Sport allein, zu zweit oder mit Mitgliedern des eigenen Hausstandes.
Die Gesellschaft für Aerosolforschung (GAeF) hat vergangenen Sonntag in einem offenen Brief an die Bundeskanzlerin und die Ministerpräsident:innen beklagt, dass sich in der Debatte zur Bekämpfung der Pandemie zu wenig vorhandene wissenschaftliche Erkenntnisse widerspiegeln würden. „Übertragungen im Freien sind äußerst selten und führen nie zu ‚Clusterinfektionen‘ “, schrieben die Wissenschaftler. Es müsse bei den Gefährdungsabwägungen zwischen drinnen und draußen unterschieden werden.
Eine solche Unterscheidung, etwa zwischen Hallen- und Freiluftsport, sieht aber der Gesetzentwurf der Bundesregierung nicht vor. In den Fraktionen der Regierungsparteien wächst aber offenbar die Erkenntnis, dass es Nachbesserungen bedarf. Am Mittwoch hatte erstmals der parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion, Carsten Schneider, eine Ausnahmeregelung für Kinder bis zu 14 Jahren gefordert. Ihnen sollte auch bei erhöhten Inzidenzzahlen weiter Teamsport ermöglicht werden. Fraktionskollegin Freitag schiebt jetzt die Verantwortung dem Koalitionspartner zu: „Es liegt nun an CDU/CSU, sich hier ebenfalls zu bekennen.“
„Deutlicher Nachbesserungsbedarf“
Eberhard Gienger, der sportpolitische Sprecher der CDU/CSU, lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Er nimmt in seiner Stellungnahme gegenüber der taz Bezug auf die Erklärung der Aerosolforscher und schreibt: „Deshalb setze ich mich beim Infektionsschutzgesetz für entsprechende Ausnahmeregelungen für den Outdoorsport ein.“ Ähnlich äußert sich auch Monika Lazar, Bundestagsabgeordnete der Grünen, zum Entwurf der Bundesregierung: „In einigen Bereichen sehen wir noch deutlichen Nachbesserungsbedarf, insbesondere bei den aktuell noch zu harten Einschränkungen für den Kinder- und Jugendsport.“
Die Stimmungslage deutet darauf hin, dass in der Kindersportfrage Spielraum für Veränderungen besteht. Der Verweis von Gienger auf die Erkenntnisse der Aerosolforscher öffnet allerdings auch das Feld für weitergehende Fragen. Warum sollen die Ausnahmeregelungen nur für Kinder bis 14 Jahre gelten? Gienger erklärt, die Festlegung einer Altersgrenze sei „grundsätzlich schwierig“, und er fügt an: „In einem weiteren Schritt sollten Ausnahmen auch für die 14- bis 18-Jährigen und darüber hinaus erwogen werden.“
Passend zu der Debatte hat der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach gerade via Twitter auf eine US-amerikanische Studie hingewiesen, die der Frage nachgeht, welchen Einfluss regelmäßige Sportausübung auf den Krankheitsverlauf von Covid-19 und die Sterblichkeitsrate hat. Die kalifornischen Wissenschaftler kommen zu dem Ergebnis, dass die Wahrscheinlichkeit für sportlich inaktive Menschen, mit einer Corona-Erkrankung auf der Intensivstation zu landen und zu sterben, deutlich größer ist. Genauer: Die Sterblichkeitsrate ist 2,5-mal höher. Die US-Forscher empfehlen den Gesundheitsbehörden, den Menschen zu kommunizieren, dass abgesehen von der Impfung und den Hygieneregeln (Abstand halten, Maske tragen etc.) Sport „die wichtigste Maßnahme sein kann“, um heftigen Covid-19-Erkrankungen vorzubeugen.
Karl Lauterbach ist dennoch gegen die generelle Erlaubnis von Mannschaftssport, der draußen stattfindet. Er warnt vor der höheren Ansteckungswahrscheinlichkeit durch die Coronamutanten und der Gefahr, dass Treffen, die draußen ihren Anfang nehmen, drinnen enden könnten. Viele Sportverbände fühlen sich wiederum durch die Ausführungen der Gesellschaft für Aerosolforschung bestätigt, dass Teamsport draußen kein Infektionstreiber ist. DFB-Vizepräsident Rainer Koch forderte diese Woche deshalb: „Der Ball muss wieder rollen.“ Die Vereine hätten sich schließlich auch im Breitensport bewährte Hygienekonzepte erarbeitet.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Stellenabbau bei Thyssenkrupp
Kommen jetzt die stahlharten Zeiten?
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Iran als Bedrohung Israels
„Iran könnte ein Arsenal an Atomwaffen bauen“