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Kinder- und JugendstärkungsgesetzMehr Rechte für Kinder

Die Große Koalition will Kinder, die im Heim leben, Gewalt erfahren oder vernachlässigt werden, besser schützen. Doch am Gesetzentwurf gibt es Kritik.

Hilfe in der Not: Die Bundesregierung will Kinder besser schützen Foto: Christian Ohde/imago

Berlin taz | Unangekündigte Kontrollen von Heimen, mehr Beschwerdemöglichkeiten für Kinder: Die Bundesregierung will die Kinder- und Jugendhilfe reformieren. Das neue „Kinder- und Jugendstärkungsgesetz“ soll die Situation von Kindern verbessern, die im Heim oder bei einer Pflegefamilie leben, zu Hause vernachlässigt werden, Gewalt erfahren oder eine Behinderung haben. Am heutigen Freitag berät der Bundestag erstmals darüber.

Das neue Gesetz sieht unter anderem eine engere Zusammenarbeit von Ärz­t*in­nen und dem Jugendamt vor. Künftig sollen Ärzt*innen, die eine Kindeswohlgefährdung vermuten, mehr Klarheit darüber bekommen, wann sie trotz Schweigepflicht das Jugendamt informieren dürfen. Darüber hinaus sollen sie eine Rückmeldung erhalten, wie es mit dem Kind und der Familie weitergeht, und gegebenenfalls per Telekonferenz in Fallbesprechungen einbezogen werden.

Jo Ewert, Kinderarzt am Universitätsklinikum Eppendorf in Hamburg, lobt die Pläne grundsätzlich. Er und seine Kol­le­g*in­nen melden dem Jugendamt regelmäßig Fälle, bei denen sie Kindeswohlgefährdung vermuten. „Es ist sehr wichtig, dass Ärz­t*in­nen Rückmeldung bekommen sollen. So können wir die Pa­ti­en­t*in­nen medizinisch viel besser begleiten“, sagt Ewert. Nicht zu wissen, wie es mit dem Kind weitergeht, sei darüber hinaus psychisch herausfordernd.

Außerdem begrüßt Ewert, dass klarer geregelt werden soll, wann Ärz­t*in­nen das Jugendamt einschalten dürfen – nämlich dann, wenn sie es bei gewichtigen Anzeichen einer Kindeswohlgefährdung für notwendig halten. „Viele Ärz­t*in­nen sind unsicher, wann der Bruch der Schweigepflicht vom Kinderschutzgesetz gedeckt ist“, sagt Ewert. Zudem wüssten einige nicht genau, woran sie eine Kindeswohlgefährdung erkennen.

Auch Zahn­ärz­t*in­nen sind wichtig

Ewert fordert daher, Ärz­t*in­nen besser zu schulen. Anzeichen seien zum Beispiel jegliche Verletzungen bei Säuglingen, Rippenbrüche oder blaue Flecke an Oberarmen, Ohren und Genitalien.

Sinnvoll sei auch die Einbindung von Ärz­t*in­nen in Fallbesprechungen. Ewert vermutet aber, dass es an der Umsetzung scheitern könnte. Niedergelassene Kin­derärz­t*in­nen behandelten pro Tag oft mehr als 60 Kinder, sagt der Mediziner. „Sie haben also frühestens ab 20 Uhr Zeit für Telekonferenzen. Das Jugendamt ist jedoch ab 16.30 Uhr häufig nicht mehr erreichbar.“

Scharfe Kritik äußert Ewert daran, dass Zahn­ärz­t*in­nen als einzige Gruppe nicht enger mit dem Jugendamt zusammenarbeiten sollen. „Schlechte, kariöse Zähne sind Anzeichen für Vernachlässigung, daher sind Zahn­ärz­t*in­nen ex­trem wichtig für den Kinderschutz“, sagt Ewert. „Ich verstehe nicht, wieso Zahn­ärz­t*in­nen von der Regelung ausgeschlossen werden. Die Frage lautet doch eher: Wie schaffen wir es, mehr Zahn­ärz­t*in­nen zu bewegen, sich mit Kinderschutz zu beschäftigen?“

Des Weiteren ist eine bessere Aufsicht von Heimen geplant, zum Beispiel durch anlasslose und unangekündigte Kontrollen. Bislang sind diese in der Regel angemeldet. Außerdem dürfen Heimaufsichten künftig Gespräche mit Kindern und Jugendlichen führen, ohne dass ein*e Mit­ar­bei­te­r*in des Heimes dabei ist. So soll gewährleistet werden, dass sich die Be­woh­ne­r*in­nen unbefangen äußern können.

Unabhängige Beschwerdestellen

Zusätzlich werden die Beschwerdemöglichkeiten erweitert: In Zukunft können sich Kinder nicht mehr nur innerhalb der Einrichtung beschweren (etwa bei einem Erzieher oder der Heimleiterin), sondern auch bei unabhängigen externen Stellen.

Möglichkeiten zur Beschwerde sollen auch Kinder in Pflegefamilien erhalten. Auch muss in Zukunft von Anfang an geklärt werden, ob ein Kind perspektivisch eher für eine kurze Zeit oder länger in der Pflegefamilie bleiben wird. Familiengerichte sollen daneben eine dauerhafte Unterbringung in einer Pflegefamilie anordnen können.

Carmen Thiele vom Bundesverband der Pflege- und Adoptivfamilien begrüßt das. „Es gibt Eltern, die regelmäßig versuchen, ihre Kinder aus Pflegefamilien rauszureißen, obwohl sie schon jahrelang dort leben“, sagt Thiele, die selbst Pflegemutter ist. Die neue Regelung schütze Kinder vor Verunsicherung und erneuten Beziehungsabbrüchen.

Jugendliche, die im Heim oder bei einer Pflegefamilie leben und bereits Geld verdienen, müssen sich bislang an den Kosten für ihre Unterbringung beteiligen – mit 75 Prozent ihres Gehalts. Wer als Pflegekind also eine Ausbildung macht und monatlich 1.000 Euro verdient, muss 750 Euro ans ­Jugendamt zahlen. Das neue Gesetz sieht vor, dass Jugendliche künftig höchstens 25 Prozent ihres Lohns an die Behörde abgeben müssen.

„Das ist ein Schritt in die richtige Richtung, aber nicht ­genug“, sagt Thiele. Sie fordert, die Kostenbeteiligung ganz abzuschaffen. „Sie führt dazu, dass Jugendliche die Pflegefamilien vorzeitig verlassen, obwohl sie noch gar nicht so weit sind.“ Gut hingegen sei, dass Pflegekinder künftig nichts mehr von ihrem Vermögen ans Jugendamt zahlen müssen. „Wie sollen sie auf eine eigene Wohnung oder den Führerschein sparen, wenn sie das Ersparte nicht behalten dürfen?“

Eine weitere Änderung: Kinder und Jugendliche können sich in Zukunft uneingeschränkt vom Jugendamt beraten lassen – ohne Einwilligung der Eltern. Außerdem sind unabhängige Ombudsstellen geplant, an die sich Familien wenden können, wenn sie Konflikte mit dem Jugendamt haben.

Die Dortmunder Jugenddezernentin Daniela Schneckenburger begrüßt das, sagt aber: „Die Mit­ar­bei­te­r*in­nen der Ombudsstellen müssen sich sehr gut in der Kinder- und Jugendhilfe auskennen. Eine strenge Parteilichkeit für das Kind ist unbedingt notwendig.“

Grundsätzlich fordert sie mehr Geld für die Kinder- und Jugendhilfe. „Jugendämter sind eingeklemmt zwischen wachsenden Bedarfen auf der einen Seite und den finanziellen Grenzen auf der anderen. Wir als Stadt können das Kindeswohl unmöglich von der Finanzierung abhängig machen.“

Die wohl umfangreichste Neuerung: Ab 2028 soll die Kinder- und Jugendhilfe für alle Kinder zuständig sein – auch für Kinder mit Behinderung. Bisher gibt es zwei parallele Systeme. Die stufenweise Umstellung dauert sieben Jahre. Bereits ab 2021 sollen alle Kinder gemeinsam in Kitas betreut werden. Ab 2024 unterstützen „Verfahrenslots*innen“ Eltern dabei, die Hilfen zu bekommen, die ihnen zustehen.

Heftige Kritik von der Linkspartei

Viel Kritik äußern Linke, Grüne und FDP an der Kostenheranziehung von Heim- und Pflegekindern. Sie fordern, den Jugendlichen ihr komplettes Gehalt zu lassen. „Sorry, aber das kann sich Deutschland leisten“, sagt der Bundestagsabgeordnete Daniel Föst von der FDP.

Marcus Weinberg, der ­familienpolitische Sprecher der Unionsfraktion, findet es hingegen richtig, dass sich die Jugendlichen weiter an den Kosten ihrer Unterbringung ­beteiligen sollen. „Die jungen Menschen müssen lernen, dass Kost und Wohnung mit Aufwendungen verbunden sind, die sie nach dem Ende der Hilfe selbst tragen müssen“, sagt der CDU-Politiker. „Im Übrigen geben auch Jugendliche, die bei ihren Eltern leben, nicht selten Teile ihres Gehalts zu Hause ab.“

Während FDP und Grüne den Entwurf von Familienministerin Franziska Giffey (SPD) aber grundsätzlich begrüßen, lehnt ihn die Linksfraktion komplett ab. „Hier werden elementare Rechte von Kindern und Jugendlichen beschnitten. Es droht eine Zunahme von hochproblematischen Kinderschutzverläufen“, sagt Norbert Müller, kinder- und jugendpolitischer Sprecher der Fraktion. Die geplanten Änderungen stärkten vor allem Misstrauen, nicht aber die Familien und ihre Kinder.

Wann das Gesetz in Kraft tritt, ist noch offen. Bundestag und Bundesrat müssen dem Gesetz noch zustimmen.

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