Kieze im Wandel: Jetzt auch noch der Wedding?
Zwei aktuelle Romane widmen sich dem Wedding. Einem Ort, der sich wandelt, aber auch so bleiben möchte, wie er ist. Ein literarischer Kiezrundgang.
Ein bisschen Friseur, ein bisschen Kellermuff, ein Hauch Nagellack und Abgasdunst: So ungefähr riecht der Wedding. Zumindest in einer Ausstellung in der Müllerstraße, die jüngst 22 Duftnoten des ehemals eigenständigen Bezirks und heutigen Ortsteils über Ventilatoren in die Luft blies.
Nimmt man die zwei Romane zur Hand, die nun über den Wedding erschienen sind, mag man noch zwei Gerüche ergänzen: den schalen Alkohol- und Kneipenduft des Brunnenviertels beim einen, beim anderen den kalten, würzigen Hauch eines typischen Innenhofs im Leopoldplatzkiez, dieser Mix aus Essen und Leben aus den Wohnungen drumherum. Darunter ist die Wohnung der Frau, deren Großeltern 1890 zu den ersten Mietern gehörten und die nun so alt ist, dass sie ihre Wohnung seit Jahren nicht verlassen hat. Oder die jener rumänischen Familien, die sich zu zehnt ein Zimmer teilen.
Berlin-Romane gibt es mehr, als man zählen kann. Geschenkt. Aber wenn ausgerechnet dem Wedding gleich zwei in einer Saison gewidmet werden, noch dazu unübersehbar durchzogen mit Spuren des Wandels, sprich: der Gentrifizierung, der Angst vor Vertreibung aus dem Kiez-Zuhause, ist das wie eine Einladung dazu, der Atmosphäre dieser Ecken jenseits der Buchseiten nachzuspüren, zu reden mit den Autorinnen, mit Wedding-Kenner*innen. Dabei im Ohr den Schlachtruf des alten Ernst-Busch-Arbeiterkampflieds, der seit einem guten Jahrzehnt mal mehr, mal weniger ironisch zitiert wird: „Der Wedding kommt“.
Die beiden Wedding-Romane von Nicola Karlsson („Licht über dem Wedding“) und Regina Scheer („Gott wohnt im Wedding“) schauen sich das Große im Kleinen an: Sie zeigen, wie Nachbarschaft in einem dicht bewohnten Kiez in einer Metropole wie Berlin aussieht, wenn neue auf langjährige Bewohner*innen und auf Immer-schon-Dagewesene treffen, in Scheers Jahrhundertrückblick auch quer durch die NS-Zeit.
Es gibt die Neuen, die denken, dass sie das Sagen haben, weil sie gesellschaftlich irgendwie besser gestellt sind als der Rest (weil: Geld, Parteizugehörigkeit, Bildung). Und jene, die das Gleiche denken, schlicht weil sie die Regeln des Viertels seit Jahren prägen. Es ist ein Gegeneinander, ein Miteinander. Die Grenzen sind fließend.
Regina Scheer: „Gott wohnt im Wedding“. Penguin Verlag 2019, 416 Seiten, 24 EuroNicola Karlsson: „Licht über dem Wedding“. Piper Verlag 2019, 320 Seiten, 20 Euro
Im Wedding geht es noch
Kurzer Realitätscheck der Wohnverhältnisse: Im aktuellen Mietspiegel der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen ist, bis auf ein paar Flecken, der gesamte Wedding gelb eingefärbt – gelb wie „überwiegend einfache Wohnlage“. Daneben Prenzlauer Berg, das südliche Pankow, alles dunkelrot und orange, die Farbe für das Höherwertige. Die Mietpreis-Statistiken von Immobilienbörsen weisen derzeit einen Durchschnitts-Quadratmeterpreis von rund 10 Euro für 60- bis 80-Quadratmeter-Wohnungen im Wedding aus. Zum Vergleich: In Prenzlauer Berg liegt der Durchschnittspreis pro Quadratmeter bei 16 Euro, in Pankow bei 13 Euro.
In Karlssons „Licht über dem Wedding“, das mehrere Lebensentwürfe aus dem Heute im Brunnenviertel ineinander verschränkt, ist die Vorhut des Neuen eine junge Modebloggerin, die in den obersten Stock eines Mehrfamilienblocks in der sozialen Wohnungsbauanlage des Brunnenviertels zieht.
Regina Scheer dagegen schickt in ihrer Geschichte „Gott wohnt im Wedding“ – ein über 100 Jahre umspannendes Porträt über ein altes Haus in der Utrechter Straße und seine Bewohner – gleich eine dubiose Investmentfirma namens „Medusa Real Estate“ los, benannt nach den verschlungenen Medusen-Kacheln im Hauseingang. Eine, die nach Drohbriefen nicht einmal davor zurückschreckt, einen Brand zu legen, um die Mieter endlich loszuwerden.
So fragt die alte Gertrud Romberg in Scheers Roman: „Aber was wollen denn die hier im Wedding?“ Sie wohnt schon ihr ganzes Leben in dem Haus in der Utrechter Straße. „Das ist doch keine schicke Gegend, nie gewesen, heute schon gar nicht. Die vielen Automatencasinos, die Koranschulen, nebenan die Tagesstätte für die psychisch Kranken und der Sperrmüll überall. Hier ziehen doch keine reichen Leute hin.“ – „Das wird doch nicht so bleiben, Oma“, sagt der Enkel, halb seufzend, vor allem wollten die ja im Zweifel nicht dort wohnen, sondern nur eine Kapitalanlage.
Andaras Hahn, Autor beim Kiezblog „Weddingweiser“ wohnt seit neun Jahren im Wedding, seit sechs im Osramkiez, dem Viertel von Scheers Roman. „Die Bestandsmieten sind noch relativ okay hier“, sagt er. Trotzdem ist längst sichtbar, dass sich etwas dreht. Er deutet auf ein fassadenlanges Transparent über einem der vielen Haushaltsauflösungsläden: „Herz statt Profit“, steht da, „Nie wieder zurück zur Spekulation“. Es gehört zur „AmMa65“, einer Mieter-Initiative an der Ecke Amsterdamer und Malplaquetstraße, die gegen den Verkauf ihres Hauses ankämpfte, es selbst kaufen wollte. Geklappt hat es nicht.
Noch nicht Neukölln
Die Baustelle gegenüber scheint ein weiterer Schritt zur Aufwertung der Gegend: Um die geschwungene Fassade eines historischen Osram-Eingangs herum entsteht ein Neubau. Ein paar Häuser weiter ein Edel-Italiener mit goldenen Buchstaben auf der Fensterscheibe, die Vier-Käse-Pizza für 15 Euro, vis-à-vis eine Bar hinter smaragdgrün schimmernden Fassadenkacheln. Trotzdem, Hahn ist überzeugt: „Der Wedding kommt nie.“ Es sei längst nicht so wie in Prenzlauer Berg oder Neukölln: „Du musst abends wissen, wo du hingehen willst, sonst findest du nichts“, sagt er, zu versprengt seien die Lokalitäten noch.
Eine Frau winkt Hahn zu, er komme später vorbei, ruft der zurück. Die Nachbarschaft hier wirkt fast dörflich eng. Das sei typisch für die Gegend, erklärt Şükran Altunkaynak vom Quartiersmanagement Pankstraße. Es ist ein vernetzter, urbaner Kiez, behutsam saniert, enge Straßen. „In dieser Nachbarschaft achtet man aufeinander“, sagt Altunkaynak, kaum typische Großstadt-Anonymität. „Unser Ziel ist, diese Struktur mit Quartiersmanagement-Projekten zu unterstützen und zu erhalten.“ Dazu gehört das „Erzählcafé“ im Kiez, das die Autorin Scheer lange geleitet hat. Altunkaynak berichtet auch, wie das Quartiersmanagement für die Neugestaltung des Utrechter Platzes eine Ecke weiter die Nachbarschaft einbezogen hat, eines der ersten Bürgerbeteiligungsprojekte im Viertel.
Und auch davon, dass vor neun, zehn Jahren einmal Menschen aus rumänischen Familien in einer Wohnung lebten, ähnlich wie in Scheers Buch, so dass für sie neue Projekte gegründet wurden. Nationalitäten würden unwichtiger bei derlei Nachbarschaftsinitiativen, sagt die Weddingerin. Die Anwohner bemerkten: „Alle haben die gleichen Bedürfnisse.“ Sie muss nicht lange überlegen, was den Wedding unterscheidet: „Wir im Wedding sind bodenständig. Wir haben nicht den Druck, aufzufallen und anderen zu gefallen.“
Auch wenn die Berliner Autorin Nicola Karlsson darauf beharrt, keinen Gentrifizierungsroman geschrieben zu haben, lässt sie deutliche Veränderungen in den Alltag ihrer Figuren im Brunnenviertel sickern, allen voran von Wolf und seiner Tochter Agnes. Wie Indizien dafür, wie wackelig das Leben der beiden ist, er Alkoholiker, sie im Teenager-Trotz, dazwischen das Jugendamt. „Langsam änderte sich die Nachbarschaft“, heißt es im Buch. „Schickere Autos und Bioläden, dafür verschwand die Hundescheiße von den Bürgersteigen. (…) Neuerdings sah man auch regelmäßig Umzugswagen.“
Leben in Fast-Noch-Mitte
Als Hannah, das Bloggermädchen, einzieht, schmuggelt sich Agnes mit rein: „Sie erwartete eine schöne Wohnung. Aber dann war sie kalt und ungemütlich, alle Tapeten waren abgerissen. Nur grauer Beton, es sah aus wie im Keller.“
Dass Karlsson für ihre Geschichte ausgerechnet die eine knallbunte Sozialbau-Wohnsiedlung ausgesucht hat, die zum mehrere Blöcke umfassenden Brunnenviertel nördlich der Bernauer Straße gehört, hat einen Grund: “Die Brunnenstraße ist wie eine Nabelschnur nach Berlin-Mitte“, sagt sie bei einem Gespräch im Café Pförtner am Rande der Uferhallen – noch so ein Ort, dem der Wandel anzusehen ist. Lange hatten Künstler*innen ihre Ateliers hier, dann zog Adidas ein.
In ihrem Roman steht die Studentin und Modebloggerin Hannah zwar für das stereotype Mitte-Image – kann es sich aber nicht leisten, in Mitte zu leben. Also kommt sie im sozialen Wohnungsbau unter, dort in Fast-Noch-Mitte, nur zwei U-Bahnstationen vom Rosenthaler Platz entfernt.
Steht man auf dem bewachsenen Mittelstreifen der Brunnenstraße, den Fernsehturm in der Sichtachse, erstrecken sich links über die autofreie Swinemünder Siedlung bis zum Mauerpark und rechts bis zum Park am Nordbahnhof die Gebäudeviertel des landeseigenen Wohnungsbauunternehmens Degewo. Rechts: das alte freistehende Eingangstor der „Allgemeinen Elektricitäts-Gesellschaft“ aus rotem Backstein mit seinen Glühbirnen-Girlanden-Mosaiken, links die neumodische Fassadenfront mit den abgerundeten Bungalows auf dem Trottoir. Einen teilen sich der Begegnungs-„Pavillon“ der Degewo, wo drei Mal die Woche Mietschuldenberatung stattfindet, ein Spielcasino und das Café des großflächigen Co-Working-Büros „Unicorn“, das auf Englisch beschildert ist: „1 day: 16,50 Euro“.
Eine Drei-Zimmer-Wohnung quasi direkt darüber, Baujahr 1983, 84 Quadratmeter, mit WBS, gibt es gerade für 820 Euro warm. Wer einmal durch die Häuserblöcke mit ihren fünf, sieben, acht Geschossen und die Höfe geradelt ist, weiß sofort, woher das Inselgefühl in Karlssons Roman kommt: Es ist ruhig. Die Innenhöfe sind licht, manche mehr grün und verwunschen, andere mit großzügigen Spielplätzen. An der Ecke ist ein Kiosk, vor dem zu allen Tageszeiten Menschen sitzen, mit und ohne Bier. Und mittendrin auch das alte Gebäude des Diesterweg-Gymnasiums, das 2011 geschlossen wurde. Wie ein orangefarbenes rundes Ufo, das 1971 dort gelandet ist und seither zuwuchert mit Grün und Graffiti.
Die Bezirkswelten mischen sich auf dem Markt
Seit Jahren sollen hier in freier Trägerschaft zusammen mit dem Bezirk neue günstige Mietwohnungen und ein Kieztreffpunkt entstehen. Die Verhandlungen sind aber ins Stocken geraten. Ende Juni gab es wieder einen Runden Tisch, das Ergebnis ist offen. Jedenfalls: Das, was man unter „Mitte“ versteht, wirkt hier weiter weg als nur auf der anderen Seite der Bernauer Straße. In „Licht über dem Wedding“ schafft es Karlsson, das Brunnenviertel als inselhaften Mikrokosmos zum Leuchten zu bringen.
Die Autorin ist in Reinickendorf aufgewachsen, als Jugendliche verbrachte sie viel Zeit mit Weddinger Freundinnen zwischen Humboldthain und der Gegend rund um das heutige Gesundbrunnen-Center. “Ich wollte zeigen, wie stark die soziale Schere in manchen Berliner Gegenden aufklafft“, erzählt sie. Zwischen dem Zuhause jener Kinder, die in sogenannte Problemschulen gehen, und jenen Kindern, die hinter pastellfarben sanierten Luxusfassaden leben, liegen mitunter nur ein paar hundert Meter Luftlinie.
Einen Ort, an dem sich die Bezirkswelten dann doch mischen, gibt es trotzdem, erklärt „Weddingweiser“ Hahn – zumindest im Sommer jeden ersten Sonntag im Monat: der „Weddingmarkt“ auf dem Leopoldplatz, mittendrin in dem Viertel, in dem Scheers Geschichte spielt. Es sei schon am „Look“ der Leute unübersehbar, findet Hahn: „Dann hat man das Gefühl, der halbe Prenzlauer Berg ist hier.“ Er sagt aber auch: „Die fahren dann ja wieder.“
Als ob der Slogan auf der anderen Straßenseite, oben an der Brandwand neben dem Nachbarschaftsgartenprojekt „Himmelbeet“, Fehler inklusive, noch abschreckt: „Still Not Gentrification!“ Dabei muss auch der Garten im Herbst 2020 weichen, hofft auf eine Ersatzfläche. Es ist, als drückte der Spruch die hiesige Hartnäckigkeit aus: Der Wedding kommt nicht, der Wedding bleibt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Stellenabbau bei Thyssenkrupp
Kommen jetzt die stahlharten Zeiten?
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich