Kiel will Abschiebestopp: Neues sicheres Ankunftsland
Schleswig-Holstein kündigt einen Abschiebestopp für afghanische Flüchtlinge an. Die Sicherheitslage habe sich rapide verschlechtert. Hamburg zieht nicht mit.
Studt bezieht sich dabei auf einen neuen Zustandsbericht zur Sicherheitslage in Afghanistan durch das UNO-Flüchtlingswerk (UNHCR), auf den er auf der Innenministerkonferenz Ende Novemberbestanden hatte.
Obwohl der Bericht seit Weihnachten dem Bundesinnenministerium in Berlin vorliegt, hat Innenminister Thomas de Maizière (CDU) ihn bislang unter Verschluss gehalten. Erst jetzt ist das Papier den Innenministern und -senatoren über die Geschäftsstelle der Innenminsterkonferenz zugesandt worden.
„Der aktuelle UNHCR-Bericht bestätigt meine Bedenken: Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nicht nur grundsätzlich kritisch, sie hat sich in den vergangenen Monaten noch einmal rapide verschlechtert“, sagte Studt.
Lob kommt für den Abschiebestopp in Schleswig-Holstein vom dortigen Flüchtlingsrat: Der aktuelle Bericht des UN-Flüchtlingshilfswerks mache „eine solche Maßnahme unumgänglich“, sagte Geschäftsführer Martin Link.
Die Flüchtlingsbeauftragte der Nordkirche, Dietlind Jochims, sagte, „die Rede vom angeblich sicheren Afghanistan steht auf tönernen Füßen“. An realen Bedrohungen vorbeigehende Symbolpolitik sei menschenverachtend. „Abschiebungen dorthin dürfen nicht stattfinden.“
Begrüßt wird der Schritt von der Piratenpartei: „Durch die Abschiebepraxis der Bundesregierung werden afghanische Flüchtlinge sehenden Auges in den Tod geschickt“, sagte die Kieler Landtagsabgeordnete Angelika Beer.
Kritik kommt von der FDP: Die Sicherheitslage sei in Afghanistan regional sehr unterschiedlich, sagte FDP-Fraktionschef Wolfgang Kubicki. „Dass Afghanistan damit aber vollständig für Rückführungen von vollziehbar Ausreisepflichtigen ausfällt, ist definitiv falsch.“
Auch CDU-Fraktionschef Daniel Günther sieht „für einen Abschiebestopp keinen Grund“.
In dem Bericht, der der taz vorliegt, zeigt sich der UNHCR „überrascht“, dass die Entwicklung der Anerkennungsquote für afghanische Flüchtlinge durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge rückläufig sei. Denn seit einer Feststellung des UNHCR zum Schutzbedarf afghanischer Asylsuchender vom April 2016 sei die Sicherheitslage bis zum Jahresende nochmals schlimmer geworden.
Laut UNHCR stieg die Zahl der „innerstaatlichen bewaffneten Konflikte“. Dabei seien 1.600 Zivilisten getötet und 3.500 Menschen verletzt sowie 530.000 Menschen in die innerstaatliche Flucht getrieben worden. Nach der Definition und den Vorgaben des Europäischen Gerichtshofes des „innerstaatlichen bewaffneten Konflikts“ müsse afghanischen Flüchtlingen zumindest ein „subsidiärer Schutz“ als Bürgerkriegsflüchtlingen gewährt werden. „Eine Rückführung in Sicherheit und Würde dürfte somit kaum möglich sein“, schreibt Studt und forderte seine Amtskollegen zu einer Stellungnahme auf.
„Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) muss erklären, wie vor diesem Hintergrund die Schutzquote sinken kann und wie er Rückführungen nach Afghanistan in Sicherheit und Würde gewährleisten will“, sagte Studt. Zu dem dreimonatigen Abschiebestopp, den er verfügen wolle, habe er rechtlich die Grundlage.
In die gleiche Richtung tendiert auch Bremen: „Wir haben hier zwar keinen Erlass, aber sehen die Sicherheitslage sehr, sehr kritisch“, sagte die Sprecherin des Bremer Innenressorts, Rose Gerdts-Schiffler, der taz. Niedersachsen prüft zurzeit den Kieler Vorstoß.
Während Bremen, Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen sich schon an der von Bundesinnenminister de Maizière initiierten Sammelabschiebung von 34 Afghanen am 14. Dezember nicht beteiligt hatten, hatte Hamburg unter Hinweis auf Vorgaben des Bundes sieben Personen in den Abschiebeflieger gesetzt. Innensenator Andy Grote (SPD) versteckt sich weiterhin hinter de Maizière: „Primär ist dazu jetzt das Bundesinnenministerium gefordert“, ließ Grote erklären. „Unabhängig davon beobachten wir natürlich die Entwicklung und die Bewertung der Lage sehr genau.“
Der grüne Koalitionspartner in Hamburg begrüßte den Vorstoß Schleswig-Holsteins. „Das ist ein gutes Signal“, sagt die innenpolitische Sprecherin Antje Möller. Die Grünen hätten schon immer einen „kritischen Blick“ auf die Rückführungen gehabt, weil Afghanistan kein sicheres Land sei. „Ich bin gespannt auf die Reaktionen der anderen Bundesländer“, sagte Möller.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?
Comeback der K-Gruppen
Ein Heilsversprechen für junge Kader
Liberale in der „D-Day“-Krise
Marco Buschmann folgt Djir-Sarai als FDP-Generalsekretär