Karneval der Kulturen in Berlin: Mehr als nur Folklore
Hunderttausende haben am Wochenende beim Karneval der Kulturen in Berlin gefeiert. Die Veranstalter betonten den politischen Charakter des Großevents.
Ein paar Frauen der Gruppe Bolivien Folk beispielsweise war die Vorfreude deutlich anzumerken. Aus Städten wie Hamburg oder Düsseldorf seien manche von ihnen extra angereist, einige bereits zum x-ten Mal. Der Aufwand sei groß, aber es sei für sie auch eine große Sache, hier vor so vielen Menschen Aspekte der traditionellen bolivianischen Kultur vorführen zu dürfen. Morenada heißt ihr Tanz. Zwei Männer in klobigen Kostümen, die zehn Kilo wiegen, wie sie meinten, erklärten dessen postkoloniale Tradition: Nichts weniger als den Kampf verschleppter Sklaven gegen ihre Ausbeuter stelle die Morenada dar.
Auch der 27. Karneval der Kulturen in Berlin, zu dem in diesem Jahr nach Angaben der Veranstalter rund 750.000 Besucher und Besucherinnen kamen, war also mehr als ein folkloristisches Schaulaufen von migrantisch geprägten Vereinen. Er war eine Veranstaltung voller politischer Implikationen. Gegen Ausbeutung und Unterdrückung zog Bolivien Folk über die Frankfurter und die Karl-Marx-Allee – auch wenn man auf den ersten Blick vielleicht meinen konnte, es handle sich dabei vor allem um eine besonders fantastisch ausgelebte Freude am Ausdruckstanz.
Die Botschaft der Tänzerinnen des Vereins Kul'tura, einer ukrainischen Gruppierung in traditionellen Kostümen, ergab sich dagegen von ganz allein: Auch wenn Russlands Machthaber Wladimir Putin die ukrainische Kultur vernichten will, bleibt sie dennoch lebendig und präsent.
Menschgewordenes Monopoly
Bei der Gruppe „100 % Tempelhofer Feld“ war von Folklore gar nichts zu sehen – ihr ging es ganz klar nur um Politik. Und natürlich um Originalität bei der eigenen Inszenierung. Als menschgewordenes Monopoly-Spiel zogen die Mitglieder dieser Initiative durch Friedrichshain. Ein Mann auf Stelzen, mit Geldscheinen im Hosenbund, verkörperte das böse Kapital. Andere waren verkleidet als Spielsteine, als Häuser und Hotels.

Zuschauern und Zuschauerinnen, die trotzdem noch daran zweifelten, einer durchaus politischen Parade beizuwohnen, wurden mit Durchsagen an den historischen Ursprung des Fests erinnert. „Tanzen gegen Rassismus“, schallte es am Sonntag entlang des Umzugs aus Lautsprechern.
Tatsächlich war der Karneval der Kulturen Mitte der Neunziger explizit als ein großes Fest gegen Rassismus gegründet worden, hatte sich zwischenzeitlich aber anhören müssen, vor allem dem Stadtmarketing Berlins als weltoffener Metropole zu dienen.
Bemühungen um eine Repolitisierung
Die Veranstalter und die Bezirksbürgermeisterin von Friedrichshain-Kreuzberg, Clara Herrmann (Grüne), waren in diesem Jahr deutlich vernehmbar um eine Repolitisierung bemüht. Und auch während der diesjährigen Ausgabe war Herrmann, Schirmherrin des Karnevals, schon Stunden vor dem eigentlichen Event in Friedrichshain unterwegs und erklärte Presseleuten, dass es jetzt erst recht darum gehe, Vielfalt zu zeigen, in Zeiten, „in denen immer mehr Nazis in den Parlamenten sitzen.“
Für etwas Aufregung sorgte der diesjährige Umzug aber auch, weil er erstmals in seiner Geschichte nicht im Ortsteil Kreuzberg stattfand, sondern durchs benachbarte Friedrichshain lief. Entlang der angestammten Strecke auf der Gneisenaustraße finden derzeit Bauarbeiten statt, deswegen die Verlegung.
Die sogenannten Stalinbauten an der Route auf der Karl-Marx-Allee stehen jedoch unter Denkmalschutz. Vor dieser Kulisse sollten besser nicht hunderttausende Partyhungrige mit Caipirinha-Schwips umherziehen, befanden Kritiker. Aber wenn nicht immer irgendjemand bei einer Neuerung etwas zu meckern hätte in Berlin, wäre es ja auch langweilig.
So weit sich das auf den ersten Blick beurteilen lässt, stehen die Stalinbauten jedenfalls auch nach dem Ende des Karnevals der Kulturen noch. Und Bürgermeisterin Clara Herrmann hat bereits verlauten lassen, dass sie sich durchaus vorstellen könne, auch den nächsten Umzug wieder durch Friedrichshain laufen zu lassen.
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