Karlsruhe urteilt zur Suizidhilfe: Viel radikaler als erwartet

Das Urteil schafft ein Recht auf einen milden Suizid mit Begleitung. Für die braucht es jetzt Mindeststandards.

Krematorium Bochum, EinSarg wird über den Flur geschoben

Wir haben alle ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben, hat das BVG entschieden Foto: imago

So nicht. Das ist die klare Botschaft aus Karlsruhe. Das Verbot der geschäftsmäßigen Hilfe zur Selbsttötung ist verfassungswidrig. Es verstößt gegen ein neu definiertes „Recht auf selbstbestimmtes Sterben“. Dieses Recht schütze auch, sich beim Sterben helfen zu lassen, so die Richter.

Dabei wären rechtlich auch andere Lösungen für die Richter denkbar gewesen. Denn auch die Befürworter des Gesetzes argumentierten mit dem Schutz der Selbstbestimmung am Lebensende. Sie befürchteten, dass alte Menschen vorschnell und letztlich unfreiwillig aus dem Leben scheiden, weil sie niemandem zur Last fallen wollen. Der assistierte Suizid dürfe deshalb nicht zu einer normalen Dienstleistung werden.

Wenn Sie Suizidgedanken haben, sprechen Sie darüber mit jemandem. Sie können sich rund um die Uhr an die Telefonseelsorge wenden (08 00/1 11 01 11 oder 08 00/1 11 02 22) oder www.telefonseelsorge.de besuchen. Dort gibt es auch die Möglichkeit, mit Seel­sor­ge­r*in­nen zu chatten.

Karlsruhe ist dieser Argumentation aber zu Recht nicht gefolgt. Denn wenn man sie ernst nähme, würde sie jede Selbstbestimmung am Lebensende verhindern. Dann wäre nicht nur der assistierte Suizid zu gefährlich, sondern auch das – bisher nicht umstrittene – Recht auf Abbruch einer lebensverlängernden ärztlichen Behandlung. Die Konstellation ist schließlich ganz ähnlich.

Doch Karlsruhe hat nicht nur die Interessen von Todkranken im Blick, sondern geht weit darüber hinaus. Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben ist als Akt autonomer Selbstbestimmung nicht auf das sichtbare Lebensende begrenzt. Insofern ist das Karlsruher Urteil weit radikaler als erwartet.

Da nach Angaben von Experten rund 90 Prozent der Suizidversuche Folge psychischer Erkrankungen sind, sollte der Bundestag schnell handeln

Auch Menschen, die noch gesund sind und daher durchaus von einer Brücke springen könnten, haben ein Recht, sich beim Suizid helfen zu lassen. Nebenbei haben die Richter damit ein Recht auf einen milden medikamentösen Suizid mit professioneller Begleitung geschaffen.

Überraschend ist auch, dass diese Begleitung nicht in erster Linie von Ärzten geleistet werden soll, sondern von den umstrittenen Sterbehilfe-Vereinen. Die Richter fürchten, dass es viel zu wenig Ärzte gäbe, die hierzu bereit wären. Wollen Ärzte am Lebensende weiter die zentrale Rolle spielen? Dann müssen die von vielen Ärztekammern ausgesprochenen Verbote des ärztlich assistierten Suizids schnell zurückgenommen werden.

Auf jeden Fall sollte der Bundestag bald ein neues Gesetz beschließen, um Mindeststandards für Suizidhilfe-Vereine festzulegen. Es muss sichergestellt werden, dass vom Recht auf selbstbestimmtes Sterben nur Menschen Gebrauch machen können, die frei verantwortlich entscheiden können. Da nach Angaben von Experten rund 90 Prozent der Suizidversuche Folge psychischer Erkrankungen sind, sollte der Bundestag schnell handeln.

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Geboren 1965, Studium in Berlin und Freiburg, promovierter Jurist, Mitglied der Justizpressekonferenz Karlsruhe seit 1996 (zZt Vorstandsmitglied), Veröffentlichung: „Der Schiedsrichterstaat. Die Macht des Bundesverfassungsgerichts“ (2013).

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