Karl Marx über Netzneutralität: „Sich da aufzuregen ist Doppelmoral“
Konkurrenz, Profit und die allgemeinen Produktionsbedingungen des Kapitals: Karl Marx erklärt im taz-Interview die Netzneutralität.
taz: Herr Marx, heute wurde im Europaparlament über die Netzneutralität gerichtet.
Karl Marx: Über was?
Über die Netzneutralität. Wir haben ja jetzt das Internet.
Interwas? Ich kenne nur die Internationale!
Ja, das Internet ist so etwas Ähnliches wie die Internationale. Informationen werden international elektronisch übertragen. Das lässt sich jetzt nicht so schnell erklären, Herr Marx. Jedenfalls wurden die Informationen, Daten also, bislang an alle Menschen gleich schnell im Internet übertragen, unabhängig von Personen, Sender und Empfänger und Inhalten.
Und im Rahmen dieser formalen Gleichheit reproduziert sich die Ungleichheit! Hab ich doch immer gesagt!
Nein. Schlimmer: Selbst die formale Gleichheit soll eingeschränkt werden. Dann könnten Unternehmen entscheiden, welche Informationen sie in welcher Qualität und Geschwindigkeit transportieren. Was sagen Sie dazu?
Zunächst mal muss man das genauer analysieren. Die dahinter stehenden Interessen unter die Lupe nehmen. Wer möchte das aus welchem Grunde?
Ingo Stützle, 37, ist Redakteur der Monatszeitung ak – analyse & kritik und teamt seit einigen Jahren Kurse zum marxschen Kapital.
Es gibt das allgemeine Problem, dass die Datenmengen größer werden...
...ach, und dafür dieses Netz auszubauen, dazu bräuchte es einen hohen Kapitalvorschuss, den niemand aufbringen möchte. Das kenn ich schon. So war das auch bei der Eisenbahn. Eigentlich bei allen größeren Infrastrukturen. Ich habe das die allgemeinen Produktionsbedingungen des Kapitals genannt.
...ja, aber so ein Netzausbau geht auch nicht so schnell. Daher sollen die Datenströme jetzt gesteuert werden.
Die, die Geld haben, versenden die Daten schneller, die mit weniger Geld langsamer?
In etwa.
Gut. Den Kapitalismus habt ihr ja immer noch nicht abgeschafft. Deshalb müssen wir uns auch hier und immer noch fragen, was eigentlich das Besondere an dieser Wirtschaftsweise ist. Haben Sie mein Buch „Das Kapital“ gelesen?
Ich habe angefangen. Bin aber nicht weit gekommen.
Ging mir ähnlich. Habe ja nur den ersten Band des Kapital fertiggestellt. Aber dort habe ich gleich auf der ersten Seite versucht deutlich zu machen, dass im Kapitalismus die Ware als Mittel dient, um Profit zu machen. Sprechen wir in Ihrem Zeithorizont: Die Telekom, das ist doch so ein Unternehmen in dieser Sphäre, nicht?, diese transportiert diese Daten ja nicht, weil sie so nett ist, sondern weil sie damit Profit machen will. Dabei steht sie aber in Konkurrenz – und Konkurrenz ist ebenfalls ein zentrales Strukturprinzip eurer Gesellschaft..... (zieht an seiner Zigarre)
Was hat das jetzt mit dem Internet zu tun?
Lassen Sie mich halt ausreden! Zum Thema: So wie sich das anhört und ich das auf den ersten Blick verstehe, verhält es sich folgendermaßen: In den letzten Jahren wurde die Ware „Internetanschluss“ verkauft, richtig?
Ja, das hat mit Modems angefangen, dann kam ISDN, dann DSL, mit dem man ständig online sein konnte. Früher war es vor allem die Telekom, inzwischen gibt es viel mehr Anbieter. Die bieten sich einen wahnsinnigen Preiskampf, wer denn nun den Leuten den Internetanschluss verkaufen kann. Inzwischen hat man sogar Internet auf seinen mobilen Telefonen!
Whatever. Also ich sehe das so: Nachdem inzwischen fast alle mit einem Anschluss versorgt sind, geht das große Hauen und Stechen los: Wer kann die Anschlüsse verkaufen? Haben Sie ja gerade selbst gesagt. Ein Internetanbieter schlägt viele tot: Ein Preiskampf um die billigsten Angebote in den Städten, gleichzeitig will niemand Anschlüsse aufs Land verlegen. Es gibt ja einen Grund, warum ich von der Idiotie des Landlebens gesprochen habe. Den ländlichen Raum zu erschließen ist zu teuer, egal ob für die Eisenbahn, die Post oder dieses Internet.
Wenn einerseits der Staat das nicht machen soll und den habt ihr ja in den letzten Jahren ganz schön klein gehalten, der darf ja gar nicht mehr auf dem Markt mitspielen, und andererseits aber die Kapitalisten damit nicht genug Profit machen können, dann gibt es eine relativ einfache Möglichkeit, wieder Profit zu machen: Die „Datenpakete“ bekommen selbst einen Preis und damit einen Klassencharakter.
Ja, aber das ist doch schlecht. Oder?
Naja – ob das schlecht ist oder nicht, dass müsst ihr entscheiden. Ich analysiere. Bislang wendet ihr das Profitprinzip auf so ziemlich viele, eigentlich die allermeisten Dinge an. Es stört euch ja auch nicht, dass Wohnen eine Ware ist. Euch jetzt bei Datenpaketen darüber aufzuregen ist bürgerliche Doppelmoral.
Also soll der Staat alles regeln?
War klar, dass die Frage kommt. An diesem Punkt habt ihr mich gänzlich missverstanden. Der Staat ist genauso scheiße wie das Kapital. Es sind zwei Seiten einer Medaille. Es ist einfach so: Wenn für das Kapital etwas unrentabel wird, aber notwendig, dass der Laden läuft, dann wird meist nach dem Staat gerufen. Das zeigt sich am extremsten in der Krise. Wie schrieb ich schon meinem Kumpel Engels zur Weltwirtschaftskrise 1857: „Dass die Kapitalisten, die so sehr gegen das Recht auf Arbeit schrien, nun überall von den Regierungen 'öffentliche Unterstützung' verlangen, also das Recht auf Profit als allgemeine Unkosten geltend machen, ist schön.“ Hört sich vertraut an, was?! Ihr hattet ja gerade auch mal wieder eine Krise. Nichts kapiert habt ihr. Aber egal. Das hat jetzt wirklich nichts mit diesem Internet zu tun.
Was sollten wir jetzt tun?
Bei dieser Frage habe ich mich schon immer einer Antwort enthalten. Nur so viel: Die Menschen müssen dem Kapital und dem Staat Organisationsleistung für die Gesellschaft abringen – selbst organisiert. Das gilt auch für das Internet.
So was gibt es sogar. Die Netzgenossenschaft. Sie ist allerdings noch nicht besonders weit und braucht Unterstützung.
Genossenschaften find ich gut. Können sich nur auch nicht der Konkurrenz entziehen. Das war schon früher ein Problem. Ist aber ein guter Ansatz.
Danke für das Gespräch, Herr Marx.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
Scholz stellt Vertrauensfrage
Traut mir nicht
Wahlprogramm der Union
Scharfe Asylpolitik und Steuersenkungen
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Künftige US-Regierung
Donald Trumps Gruselkabinett