Kandidatenmangel für Kommunalwahlen: Ein Amt, das keiner will
In Neulewin in Brandenburg fällt die Wahl in diesem Jahr aus. Der scheidende Amtsinhaber Horst Wilke (66) hat seine eigene Erklärung für die Misere.
Horst Wilke, 66, parteiloser Bürgermeister von Neulewin, einer Gemeinde im Oderbruch mit rund 900 Einwohnern, die verstreut in 13 Dörfern und Gemeindeteilen leben, würde seine Nachfolgerin oder seinen Nachfolger auch in die Geheimnisse des Doppik einweihen. „Der doppische Haushalt ist recht kompliziert“, sagt Wilke. „Doppik“ – die doppelte Buchführung, angelehnt an die Privatwirtschaft – ist für viele Gemeinderäte ein Buch mit sieben Siegeln. Wilke kann’s lesen. Aber wen interessiert das? Horst Wilke, fast 29 Jahre lang ehrenamtlicher Bürgermeister, hört auf und keiner will das Amt haben. Die Bürgermeisterwahl als Teil der Kommunal- und Europawahlen am 26. Mai ist in Neulewin abgeblasen.
Neulietzegöricke ist eines der Gemeindedörfer. Hier lebt Wilke seit 1977, hier begann 1990 sein Aufstieg als Politiker und seitdem das Dorf 2003 nach Neulewin eingemeindet wurde, ist Wilke der Bürgermeister von Neulewin. Ehrenamtlich. Das heißt mit vielen nebenberuflichen Arbeitsstunden pro Woche, mit Entscheidungsbefugnissen über Bebauungspläne und Gemeindefeste und mit ein paar Hundert Euro Aufwandsentschädigung im Monat.
Neu – so beginnen im Oderbruch die Namen vieler Dörfer. Als Preußenkönig Friedrich II. Mitte des 18. Jahrhunderts den Lauf der Oder begradigen ließ, gründeten Kolonisten dort, wo eben noch Wasser floss, Dörfer. Das erste entstand genau hier, wo Horst Wilke lebt – eine Siedlung mit zwei parallelen Straßen, dazwischen Kirche, Schule, Gasthof, entlang der Straßen Fachwerkhäuser, dahinter Gärten. Und weil das Dorf 1753 in der Gemarkung von Lietzegöricke entstand, hieß es Neulietzegöricke – das älteste Kolonistendorf im Oderbruch. Der Dorfkern steht unter Denkmalschutz, die Kirche sowieso, selbst der „Feuchte Willi“, der Gasthof.
Ehrenamt vs. Freizeit
Wilke deutet auf die Kolonistenhäuser mit ihren grün gestrichenen Türen, erklärt, warum das Fachwerk die Spannungen bei so hohem Grundwasser viel besser ausgleicht als das Steinbauten tun. Wilke kann Vorträge über sein Dorf halten. Wenn es den Lehrberuf des Dorfbürgermeisters gäbe, er wäre ein prima Lehrer. Und wer sich das Amt noch nicht zutraut, könnte zunächst Ortsvorsteher werden, so heißen die Bürgermeister der verstreuten Ortsteile. Für Neulietzegöricke und Neulewin finden sich auch die nicht.
Ein bisschen ernüchtert klingt Horst Wilke schon, wenn er darüber redet. Da baut einer nach der Wende die kommunale Selbstverwaltung mit auf, klappert alle Fördertöpfe ab, ist 29 Jahre lang nach Schichtschluss unterwegs – Wilke war bis 2015 Eisenbahner – und dann findet sich keiner, der übernimmt. Warum? Wilke gibt selbst die Antwort: „Ehrenamtliche Arbeit bedeutet immer Freizeitverlust.“ Der Satz klingt wie ein Axiom. Doch wenn es schon Zeit kostet, sollte es zumindest hin und wieder Spaß bereiten, beim Dorffest was reinzubuttern, der Feuerwehr einen Scheck zu überreichen, für die Jugend den Sportplatz herzurichten. „Das ist das Salz in der Suppe“, bekennt Wilke, „das macht das Dorfleben schön.“
In der Logik der Kommunalfinanzen laufen solche Dinge allesamt unter „freiwillige Aufgaben“ – kein Salz, sondern Schnickschnack, den sich jede Gemeinde sparen muss, wenn Geld knapp ist. Wilke holt eine Liste hervor: 2.100 Euro für Feste, 900 Euro für Seniorenbetreuung, 800 Euro für Spielplätze, 100 Euro für die Bibliothek. Der größte Posten der freiwilligen Aufgaben sind der Denkmalschutz und die Dorfgemeinschaftshäuser. Insgesamt machen die freiwilligen Aufgaben aber weniger als drei Prozent des Gemeindehaushalts von etwa 1,2 Millionen Euro aus.
Gut 700.000 Euro dieses Haushalts wandern weiter in die Amts- und in die Kreisverwaltung. Umlage heißt der Zauber, der die Gemeindekasse, kaum dass sie sich leidlich gefüllt hat, wieder leert. Die Amtsumlage ist der Beitrag, den die Gemeinde anteilig für die Verwaltung im Amt Barnim-Oderbruch zahlt, zu dem Neulewin gehört. Dasselbe gilt für den Kreis Märkisch Oderland, der die Kreisumlage kassiert.
Diese Umlage ärgert Wilke. Der Kreis, der vom Berliner Stadtrand bis an die polnische Grenze reicht, „hat einen Überschuss von 46 Millionen Euro angehäuft“, erzählt Wilke, „aber die Dörfer darben“. Es wäre an der Zeit, die Umlage zu kürzen. „Aber im Kreistag in Seelow“, schimpft Wilke weiter, „walten unverständige Mächte.“ Da hätten Kräfte das Sagen, die im Oderbruch so gut wie wirkungslos seien – Parteien. Und in einem Kreis mit siebzig Kilometern Breite ist nicht mehr die Dorfstraße der Mittelpunkt der Politik, sondern Potsdam mit den Zentralen der Landesparteien. Die Drähte dorthin glühten, die Leitungen ins Oderbruch aber blieben stumm.
Es betrifft ja nicht nur Neulewin. Die Hälfte der Gemeinden im Landkreis stehe finanziell auf dem Schlauch. „Da ist was faul“, sagt Wilke, „da sind Landes- und Bundespolitik gefragt.“ Am 1. September ist Landtagswahl in Brandenburg. „Jetzt haben sie Angst vor der AfD.“ Die SPD, die so lange im Lande regiert wie Horst Wilke im Oderbruch, und die 2014 noch 32 Prozent holte, dümpelt nach Umfragen bei zwanzig Prozent. Die AfD sitzt ihr mit 19 Prozent im Nacken.
Doch die AfD, die sich im Osten gern als neue Volkspartei sieht, hat für die Gemeindevertretung von Neulewin – diese Wahl findet statt – keinen Kandidaten gefunden. CDU, SPD, Bündnis90/Die Grünen, FDP und Linkspartei allerdings auch nicht. Nicht eine Partei hat Vorschläge eingereicht. In den Städten, mögen sie noch so klein sein, sieht das anders aus. Im nahen Wriezen mit seinen 7.000 Einwohnern treten für die Grünen zwei Frauen und zwei Männer für den Stadtrat an. In Jena in Thüringen haben die Grünen sagenhafte 41 Kandidatinnen und Kandidaten aufgestellt. In Neulewin schickt stattdessen der Karnevalsverein drei Frauen und zwei Männer ins Rennen. Die größte Wählergruppe mit acht Personen ist aber die Liste, die Wilke anführt. Im Gemeinderat will er noch mitmachen.
Aufrecht, mit kantigem Schädel und Gedanken, so geradlinig wie die Dorfstraße läuft Wilke über das Pflaster. Es hat sich vieles geändert in den 29 Jahren. In der alten Schule in „Lietze“, wie die Leute das Dorf nennen, ist das „Kolonistencafé“ eingezogen, im „Feuchten Willi“ gibt es Livemusik. Im Sommerhalbjahr setzt eine Fähre über die Oder. Wilke macht auch Europapolitik. Als im vorigen Jahr die polnischen Dörfer an der Fähre zu einem Fest luden, brachte er tausend Euro mit. Nicht aus dem Topf „freiwillige Aufgaben“, er hat das Geld eingesammelt. „Eigentlich“, sagt Horst Wilke, „ist ehrenamtlicher Bürgermeister ein undankbarer Posten.“
Das hat sich herumgesprochen. Im Landkreis Kusel in Rheinland-Pfalz finden sich für 30 der 98 Ortsgemeinden keine Bürgermeister. Auch in Mecklenburg-Vorpommern fallen Bürgermeisterwahlen aus. In zehn Bundesländern finden am 26. Mai Kommunalwahlen statt. In Bayern erst im März 2020. Doch die CSU schaltet auf der Suche nach Bürgermeisterkandidaten schon Zeitungsanzeigen.
In Neulewin wird sich einer finden, glaubt Wahlleiterin Sylvia Borkert. Im Büro in der Amtsverwaltung in Wriezen organisiert sie die Kommunalwahl im Amt. Kandidatinnen und Kandidaten haben sich für die sechs Gemeindevertretungen und die 22 Ortschaftsräte genügend gefunden, sagt Borkert, darunter viele junge. Nur in Neulewin will keiner Horst Wilke nachfolgen. Sie kennt einen weiteren Grund. „Nee, so gut wie Horste kann ich das nicht“, würde sich mancher sagen, glaubt sie. Wilke hat Maßstäbe gesetzt.
Würde jetzt einer die Hand heben, wäre es zu spät. Die Frist ist abgelaufen. Doch das Kommunalwahlgesetz baut vor. Bei der konstituierenden Sitzung des Gemeinderats, erklärt Borkert, werde sie den neuen Rat auffordern, aus den Reihen der Wahlberechtigten einen Bürgermeister zu wählen. Sollte das fehlschlagen, wird es nach sechs Monaten wiederholt. Findet sich immer noch keiner, würde der stellvertretende Bürgermeister das Amt wahrnehmen. Der muss auf jeden Fall gewählt werden. Eines aber ist klar, „Horste“ hört auf.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!