Kampfjet-Videos im Kundus-Prozess: Wer ist Zivilist und wer Kämpfer?
Die Aufnahmen aus großer Höhe zeigen kleine schwarze Punkte. Was man aus deren Bewegungen ableiten kann, wird sehr unterschiedlich interpretiert.
BONN taz | Sind die kleinen schwarzen Punkte auf der Leinwand als Kämpfer erkennbar? Oder sind es eindeutig Zivilisten? Das versuchte gestern das Bonner Landgericht zu ergründen. Die Richter versuchten herauszufinden, was Bundeswehr-Oberst Georg Klein sah, als er im September 2009 den Befehl zu dem verhängnisvollen Luftschlag von Kundus gab.
Kurz zuvor hatten die afghanischen Taliban zwei Tanklaster entführt, die dann aber in einer Furt steckenblieben. Oberst Klein ordnete den Abwurf von Bomben an, bei dem Dutzende umstehender Menschen starben, wohl auch viele Zivilisten. Zwei Angehörige fordern nun in einem Musterprozess Schadenersatz von Deutschland. Sie haben grundsätzlich Anspruch darauf, wenn der Luftschlag rechtswidrig war.
Das Gericht hatte zwei große Leinwände aufgebaut und zeigte dort – auch für das Publikum sichtbar – die Bilder, die US-Flugzeuge in der Nacht auf den 4. September 2009 an den Gefechtsstand von Oberst Klein funkten. Zu sehen ist eine langgestreckte Sandbank im Fluss, auf der zwei Ansammlungen kleiner schwarzer Punkte zu sehen sind. Das sind die Menschen, die um die steckengebliebenen Tanklaster herumstanden, kommen, gehen, hin und her laufen.
Die Aufnahmen wurden mit Infrarot-Kameras angefertigt. Warme Stellen, also vor allem Menschen und Motoren, sind dunkel sichtbar – aber nur sehr klein. Die Aufnahmen wurden aus rund 360 Meter Flughöhe gemacht.
Insgesamt rund eine halbe Stunde Bildmaterial betrachtete das Gericht. Immer wieder wurde das Video angehalten und Experten versuchten, die Punkte zu interpretieren. Die Bundeswehr hat einen Oberstleutnant mit 500 Tagen Einsatzerfahrung in Afghanistan aufgeboten. Den Klägern hilft der Bundeswehr-Aussteiger Jürgen Rose.
Was ist militärisch-geordnetes Verhalten?
„So würde ein erfahrener Truppenführer seine Leute nie herumstehen lassen“, sagte Rose. „Die Taliban sind aber eine Guerillagruppe, die nicht klassisch ausgebildet ist“, entgegnet der Bundeswehr-Experte. „Bestimmte Gefechtsregeln beachtet auch eine erfahrene Guerillatruppe“, beharrt Rose.
Jede Bewegung eines Punkts wurde unterschiedlich interpretiert. Bildeten die Punkte eine gerade Linie, wertete die Bundeswehr dies als Beleg für „militärisch geordnetes Verhalten“, während Rose die gleiche Konstellation als „zwar organisiert, aber zivil organisiert“ einstufte. Nach Recherchen der Kläger kamen Leute aus den umliegenden Dörfern zu den Tanklastern, um kostenlos Benzin abzuschöpfen. Viele von ihnen wurden getötet, deshalb die vielen zivilen Opfer.
Der Anwalt der Bundeswehr, Mark Zimmer, fasste die Videobetrachtung so zusammen: „Niemand konnte hier erkennen, wer Zivilist und wer Kämpfer ist.“ Verständlich seien die Bilder nur durch andere Informationen geworden, vor allem einen afghanischen Informanten, der der Bundeswehr gemeldet hatte, auf der Sandbank seien nur Aufständische, „und er hat daran auch auf siebenmaliges Nachfragen festgehalten“, so der Anwalt.
Unverantwortliche Folgerung
Für die Kläger räumte der Bremer Professor Peter Derleder ein, dass man nicht erkennen konnte, dass auch Kinder und Jugendliche auf der Sandbank waren. Es sei auch nicht zu sehen, wer bewaffnet war und wer nicht. Deshalb sei aber auch nicht erkennbar, dass es sich hier um eine militärische Aktion der Taliban handelte. Es sei unverantwortlich, dies nur auf Grundlage einer einzigen Quelle anzunehmen.
Der als Sachverständiger geladene Afghanistan-Experte Thomas Ruttig erklärte, dass Taliban nur extrem selten in so großen Gruppen auftreten. Das Gericht will am 11. Dezember mitteilen, ob es von fahrlässigem Verhalten Oberst Kleins ausgeht. Nur dann wird der Schadenersatzprozess weitergehen.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Tabubruch der CDU
Einst eine Partei mit Werten
Trump und die Ukraine
Europa hat die Ukraine verraten
Social-Media-Star im Bundestagswahlkampf
Wie ein Phoenix aus der roten Asche
Gerhart Baum ist tot
Die FDP verliert ihr sozialliberales Gewissen
80 Jahre nach der Bombardierung
Neonazidemo läuft durch Dresden
Mitarbeiter des Monats
Wenn’s gut werden muss