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Kampf um Kiew, Frieden in BerlinEin Leben in Freiheit kostet

Europa muss sich auch moralisch erneuern. Strategische Partnerschaften mit Diktaturen darf es nicht geben.

Gelingt es den Ukrainern, den russischen Aggressor zu stoppen, könnte das Putins Ende bedeuten Foto: Luka Daksober/dpa

Putins Russland hat in den letzten zwei Jahrzehnten kontinuierlich völker- oder menschenrechtliche Standards verletzt. Die Kriege auf dem Kaukasus, vor allem die Tschetschenienkriege, waren da eindeutig. Damals schaute der Westen nicht so genau hin, vordergründig ging es gegen Islamisten.

Was sich tatsächlich abspielte, beschrieben Autorinnen wie Polina Wiktorowna Scherebzowa. In „Polinas Tagebuch“ (Rowohlt 2015) dokumentierte sie von ihrer Kindheit an die Kriege in Tschetschenien. Heute lebt sie im finnischen Exil.

Im Stile der alten Sowjetunion verbreitet Putin regelmäßig Fake News, um Gegner zu schwächen, Minderheiten zu diskreditieren, Oppositionelle oder Konkurrenten beseitigen zu lassen. Michail Chodorkowski, Chef des einst mächtigen Erdölunternehmens Yukos, geriet mit Putin Ende der 1990er in Widerspruch. Er kritisierte Korruption und mangelndes Demokratieverständnis der Putin-Fraktion. 2003 wurde er verhaftet und bald enteignet.

Russland verstehe, wer das Gefängnissystem betrachtet, sagte Chodorkowski nach der Freilassung auf einer Buchvorstellung in Berlin 2014. In „Meine Mitgefangenen“ (Galiani Verlag, 2014) erzählt der einst reichste Mann Russlands von den Menschen, die er in Haft traf. Ein Soziogramm der russischen Gesellschaft.

Stalinistischer Stil

Sehr bewusst droht Putin jetzt beim Überfall auf die Ukraine all jenen, die nicht mit ihm gehen­ sollten. Die im Stile des Stalinismus inszenierte Vorführung des Geheimdienstchefs im TV – der verdutzt wirkte, hatte er doch gar keine Kritik geäußert – war eine Warnung an alle. Denn wer so mit seinen „engsten Vertrauten“ umspringt, ist zu allem bereit.

Mit dem Überfall auf die Ukraine scheinen das jetzt auch die Europäer zu begreifen. Putins Machtanspruch kennt keine Grenzen, sofern man ihm keine Grenzen setzt. In Syrien schaute die Welt zu, wie Putins Luftwaffe mit Bombenterror Diktator Assad an der Macht hielt.

In gleichem Maße, wie Putin in den letzten 20 Jahren die demokratischen Ansätze in Russland kappte, forcierte er seine Lobbypolitik in Westeuropa. Gerhard Schröder und Gazprom sind nur ein Beispiel dafür. Vielleicht werden die Grünen um Robert Habeck und Annalena Baerbock in der neuen Regierung nun besser gehört, so sie den schnellen Ausstieg aus fossilen Rohstoffgeschäften und eine technologische Wende zu fairen Produktionsweisen fordern.

Schluss mit Opportunismus

Habeck betont zu Recht, dass dies die Deutschen jetzt auch etwas kosten wird – und darf. Jetzt da wir nicht mehr allein über das Abschmelzen der Polkappen und die Klimaerwärmung reden, sondern um das nackte Überleben der mutigen Menschen in der Ukraine. Es ist die Abwehr eines Angriffs auf die europäischen Demokratien, welche Putin nicht erst seit der schmählichen Flucht der Nato aus Afghanistan für schwächlich und dekadent hält.

Der Kampf um Kiew ist ein Kampf um ganz Europa. Gelingt es den Ukrainern, den russischen Aggressor zu stoppen, in einen länger anhaltenden Krieg zu verwickeln, könnte es Putins Ende bedeuten. Es ist die Attacke auf eine „Brudernation“, eine, deren Präsident selber Russisch spricht. Kommen die Särge, könnte trotz Zensur und Desinformation die Stimmung in Russland gegen Putin kippen. Und dann sind da ja noch die Sanktionen und die nun endlich auch von Deutschland genehmigten Waffenlieferungen.

Die demokratische Politik braucht in jedem Fall aber eine moralische Erneuerung. Eine, die die Lobbyarbeit für Diktaturen vollständig diskreditiert und keinerlei strategische Partnerschaften mehr mit zerstörerischen Diktaturen und Ökonomien akzeptiert. Der Luxus, dass wir hier anders als die Menschen in Kiew derzeit in Frieden leben dürfen, sollte für geschmälerte Gewinn- und Konsummargen entschädigen.

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1 Kommentar

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  • So muss man es wohl sehen, wenn Demokratie/ demokratische Werte nicht nur das Schmierfett für den Kapitalismus sein sollen. Aber was bedeutet das also für andere Wirtschaftsbeziehungen: China, Saudi Arabien, Ägypten, Quatar, ...? Und wo und wie zieht man die ,,Grenze'', wann ist der Handel ,,ok", wann nicht?



    Wer ,,Wandel durch Handel" propagiert, will vielfach vor allem Geld verdienen. Müsste man sich nicht ehrlicher und verbindlicher um das Aufstellen von Kriterienkataloge kümmern, ähnlich wie beim Lieferkettengesetz?! (Und wir sehen ja, wie beim Lieferkettengesetz in Deutschland ,,Hurra!" gerufen wird.)