KOMMENTAR: Sie wollen nur lernen
Vieles, was die Stadt Hamburg bildungspolitisch auf den Weg gebracht hat, ist lobenswert und sinnvoll. Schulabgänger waren mit 21 oder 20 Jahren schon viel zu alt, wenn sie ihre Ausbildung begannen. Deshalb wurden „Warteschleifen“ und das zwangsweise Sitzenbleiben abgeschafft.
Doch nun scheint es, als ob der SPD-Senat im Übereifer ein paar Hebel zu viel umgestellt hat. Das freiwillige Wiederholen am Ende der zehnjährigen Schullaufbahn wird ausgerechnet jenen, die am weitesten zurück sind, fast unmöglich gemacht. Wer den Realschulabschluss erreichen möchte, soll, so zeigt der Fall Yanis*, schon Mitte der 9. Klasse Realschulniveau in Mathe, Deutsch oder Englisch erzielt haben. Sonst darf er oder sie nicht wiederholen.
Ob persönliche Krisen oder Krankheit als Grund für Wiederholung anerkannt werden, liegt offenbar im Ermessen der Lehrer und Schulaufsichtsbeamten. Und die Chancen, sich im Gerichtssaal zu wehren, stehen nach der still und leise verabschiedeten Schulgesetzänderung schlecht.
Man sollte sich vergegenwärtigen: Diese 16-Jährigen sind keine Schwerverbrecher. Sie wollen nur lernen und machen das im persönlichen Gespräch auch glaubhaft. Ihr Problem ist, das inzwischen nicht mehr nur ihre Lehrer über diese Schicksalsfrage entscheiden, sondern auch die Schulverwaltung im fernen Elfenbeinturm der Behörde. Und dass beide im Zweifel die Verantwortung auf den anderen schieben.
Schuld ist die Politik. Die bisherigen rund fünf bis sechs Prozent Wiederholer, die es an den Gesamtschule immer schon gab, werden als störender Kostenfaktor gesehen. Wenn nicht „sichergestellt“ ist, dass ein höherer Abschluss rausspringt, gilt das Geld für ihren Unterricht als verschwendet. Dabei sind auch nach einem Jahr „Ausbildungsvorbereitung“ längst nicht alle jungen Leute in Ausbildung. Auch dort wird Zeit verschwendet.
Unverständlich ist, warum der Bildungsaufstieg zum Realschulabschluss so schwer gemacht wird. Für Hauptschüler führt kein Weg mehr an der Lehre vorbei. Dabei gibt es nur wenige Berufe, die sie ergreifen können. Ein Realschulabschluss würde sie schlagartig viel weiter bringen.
Letztlich haben diese Schüler keine Lobby. Und der Senat sieht sich unter Druck, wenn immer mehr Schüler Abitur schaffen und darunter auch schwache Absolventen sind, die in Rankings den Schnitt nach unten ziehen. Welche Fortschritte beim Wiederholen erzielt wurden, dazu gibt es keine Statistik. Doch mancher, der die Anforderungen für den Mittleren Abschluss packt, schafft es auch gleich in die Oberstufe. Härte zeigen nach Klasse 10, das ist womöglich ein Versuch, diese Entwicklung zu bremsen, nach dem Motto: Schuster bleib bei deinem Leisten.
Dabei ist das Streben nach höherer Bildung nachvollziehbar. Denn auch mit einem knapp bestandenem Abitur oder Fachabitur kommt man gut im Leben zurecht, viele gehen dann in eine Ausbildung oder absolvieren ein duales Studium. Für Bildung gibt es keine Obergrenze. Im Gegenteil, wenn viele Jugendliche Mittlere Reife oder das Abitur schaffen, trägt das zur Stabilisierung unserer Gesellschaft bei. Kaija Kutter
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen