Junges Theater beim „Radikal jung“: Von Disney unterwandert
Beim Münchner Theaterfestival „Radikal jung“ ging es um politische Zeichensetzung. Dabei spielten Identitätsdiskurse und Folklore eine große Rolle.
Die antirassistische Starprofessorin Saraswati hat sich selbst zur Inderin gemacht, Sorour Darabi spiegelt die eigene Trans-Identität in der Erzählung vom Tier-Menschen Mowgli, und Joana Tischkaus Tänzer*innen prüfen, wie sie als Frauen und People of Colour (PoC) in der weiß-deutschen Karnevalstradition vorkommen könnten. Identität und der Versuch, sie zu unterwandern oder zu definieren, spielt eine große Rolle im diesjährigen Festival „Radikal jung“, das am Wochenende im Münchner Volkstheater zu Ende ging.
Was 2005 mit einem rein deutschsprachigen Ausblick auf die Regiehandschriften der Zukunft begann, wurde nach zwei ausgefallenen Ausgaben als internationales Themenfestival wiedergeboren. Internationaler wurde die Bestenauswahl junger Regisseure zwar jedes Jahr. Aber dass es weniger um ästhetische Weichenstellung als um politische Zeichensetzung geht, ist neu, wenn auch symptomatisch für diese Zeit.
Elf Produktionen aus Deutschland, Belgien, Großbritannien, Griechenland und der Ukraine hat eine vierköpfige Jury ausgewählt, die neuerdings auch nicht mehr „Jury“ heißt, sondern „kuratorisches Team“. Was das für das Zustandekommen der Auswahl bedeutet, die Festivalleiter Jens Hillje als „diskursiv-essayistisch“ bezeichnet, bleibt unklar.
Ein wenig sieht es so aus, als hätte Hillje, der als Dramaturg am Berliner Maxim Gorki Theater das fulminante Debattenmusical „Slippery Slope“ mit verantwortete, die dort erfrischend politisch unkorrekt verhandelten „Burning Issues“ kulturelle Aneignung und Cancel Culture nach München exportiert.
Identitätsdiskurs im Schnelldurchlauf
Auch Kieran Joels am Düsseldorfer Schauspielhaus entstandene Inszenierung von Mithu Sanyals vieldiskutiertem Roman „Identitti“ kommt ideologisch entspannt daher. Die von der Autorin selbst erstellte Fassung gerät auch weniger akademisch als das Buch. Und dennoch haben Regisseur und Schauspieler*innen ihre liebe Mühe damit, dem Publikum im Schnelldurchlauf die Identitätsdiskurse der letzten 20 Jahre nahezubringen und zugleich so viel Action dazuzupacken, dass das nicht auffällt.
Ein sich elegant dem Klammergriff des Diskurses entwindendes Spiel sieht man nur selten. Oft müssen die (verbalen) Schlagabtäusche die gesamte Bühnenbreite überwinden. Womöglich noch eine Altlast aus dem Coronaherbst 2021, als die Inszenierung (noch mit Abstandsregeln?) Premiere hatte.
Doch es gibt einen optischen Ankerpunkt: Kali – die hinduistische Göttin der Zerstörung und Erneuerung, die sich die Protagonistin Nivedita als Freundin und Ratgeberin imaginiert, tritt hier leibhaftig auf: zur Gänze blau angemalt, mit einigen zusätzlichen Armpaaren und männlichen Schrumpfköpfen am Goldkettchen-Gürtel.
Gespielt wird die schrille Gottheit von einem Mann. Serkan Kaya macht schlechte Witze, singt halbgut und erinnert seine Mitspieler*innen gerne daran, dass im Theater alles möglich ist. Und wenn jemand wie er eine Göttin spielen kann und Geschlechter fluide sind, warum dann nicht auch andere Identitäten?
Endet die Freiheit bei der eigenen Haut?
Das Theater-Framing macht es dann auch verständlicher, als es im Buch ist, dass Niveditas Lieblingsprofessorin so leicht verziehen wird, als ihre Racial Masquerade ans Licht kommt. Saraswati ist nämlich keine Person of Colour, sondern durch und durch weiß. Und völlig unbekümmert darum, dass diese Enthüllung das Unzugehörigkeitsgefühl der jungen Deutsch-Inderin noch vergrößert, doziert sie entspannt über Colour-Queerness, Antiessentialismus und die Frage, ob die Freiheit ausgerechnet bei der eigenen Haut enden sollte.
Da ist viel Sprengstoff drin. Denn es ist eine Weiße, die hier mal wieder die Deutungsmacht an sich zieht, hier mit zwei Schauspielerinnen besetzt als doppeltes Lottchen der spektralen Identität. Man könnte über Nischen nachdenken, die auch Safe Spaces sind. Und ob es wirklich Geschichten sind, die Identitäten schreiben, wie Mithu Sanyal meint. Stattdessen verplätschert der Abend in semioriginellen Bemühungen, sich an dem Stoff nicht die Finger zu verbrennen.
„Mowgli“ geht dagegen gleich dahin, wo es brennt. In den Dschungel der geschlechtlichen Mehrdeutigkeit. Das kaum 50-minütige Solo des aus dem Iran stammenden, in Frankreich lebenden Performancekünstlers Sorour Darabi stellt die Frage, wie er/sie als nicht binäre PoC sich selbst und den Anderen begegnet.
Mit Langhaarperücke, nacktem Hintern und heraushängender Zunge adressiert Darabi die Zuschauer erst verbal dann sexuell aggressiv, dazwischen kämmt er selbstvergessen die Haare an seinen Beinen und hält eine Lecture, allein im leeren Raum. Über Sein und Scheinen, Projektionen und den Zwang, sich erklären zu müssen. So wie Mowgli, das von wilden Tieren aufgezogene Kind in Rudyard Kiplings „Dschungelbuch“ sich bekennen muss, sobald es aus dem Schatten des Dschungels tritt: Mensch oder Tier, Junge oder Mädchen?
Mowgli ist Rap, nicht Disney
Darabi, hinter dessen Personalunion als Performer und Choreograf sich eine ganze Armada von Koproduzenten in Stellung gebracht hat, verdankt die Inspiration für diese Neuinterpretation des Konzepts der „Wildnis“ dem Track Mowgli des Rap-Duos PNL und nicht den Traumfabrikanten des Disney-Konzerns, die dieses Festival offenbar unterwandert haben.
In „Identitti“ wird das Lied der doppelzüngigen Schlange Kaa gesungen, und in Joana Tischkaus „Karneval“ spielt Julius Janosch Schulte den kleinen Löwen Simba, dem der weise Affe Rafiki rät, sich seiner Vergangenheit zu stellen.
Geht es – Schulte ist weiß und trägt in dieser Szene Dreads – um Cultural Appropriation oder um eine Anspielung auf Beyoncés schwarze Umdeutung des „Lion King“-Musicals? Als Nicht-Eingeweihter kommt man hier ebenso wenig über Mutmaßungen hinaus wie in Caner Tekers Tanzstück „Karadeniz“, das mit seinem sehr eigenen Timing die Rituale und heteronormativ geprägten sozialen Choreografien türkischer Hochzeiten queert.
Vor allem haben es der Choreografin die Köçek angetan, schöne junge Männer in Frauenkleidern, die bis Ende des 19. Jahrhunderts in traditionellen türkischen Bars, den Meyhanes, tanzten und sich ihre Existenzberechtigung mit Prostitution erkauften.
Türkische Folklore und Karneval
Was die mal abstrakt-schreitenden, mal ringkampfähnlichen Choreografien angeht: Man müsste das Original kennen, um die Abweichung benennen zu können. Als Gewalterfahrung und innerer Aufruhr relativ leicht zu entschlüsseln ist dagegen der ohrenbetäubende Krach, der in „Karadeniz“ die folkloristischen Trommelwirbel mehr und mehr verschluckt.
Und auch Joana Tischkaus Technik ist klar. Wie schon in ihrem Erstling „Playblack“ collagiert die in Göttingen aufgewachsene schwarze Choreografin auch in ihrem Stadttheater-Debüt „O-Töne“ mehr oder weniger offen rassistische weiße Entertainer – hier ergänzt durch brauchtumspositive Politiker und tümelnde Kopflosigkeiten wie dem „So gehen die Deutschen“-Ausfall der (Fußball-National-)„Mannschaft“. Nach dem Vorbild der Mini Playback Show im 90er-Jahre-TV werden dazu Mund, Hüften und Beine bewegt.
Dieser nach eigenen Aussagen „unaushaltbar unterhaltsame Musical-Theaterabend“ arbeitet zudem viel mit Verzerrungen. Mimischen – und musikalischen, die Frieder Blume via Auto-Tune und Verlangsamungen an Faschingsklassikern wie „Viva Colonia“, Schunkelmusik und Mainstream-Discostampf vornimmt.
Die diverse Crew macht mit erhobenen Kampf-Fäusten und entschlossenen Blicken ernst mit dem Frohsinn und geht mit ihrem popkulturellen Besteck an diskriminierende Exotismen und Klischees von deutscher Gemütlichkeit.
Den Wumms von „Playblack“ hat der Abend nicht, aber er ist ein kluger und angenehm undidaktischer Versuch, sich mit Körpern, deren äußere Features der Karneval rassistisch vereinnahmt hat, aktiv in diese Tradition einzuschreiben. Mit Riesen-Afro-Perücken, Clownsnasen und leichtem Grusel-Faktor.
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