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Junge bettelnde Männer in der S-BahnAm Ende

Mir ist die Begegnung mit jungen Bettlern in der S-Bahn oft unangenehm. Es ist nicht nur der Umstand, dass sie betteln, es ist, wie sie es tun.

Für manche Menschen ist der Kaffeebecher die letzte Chance, zu Geld zu kommen Foto: dpa

A m Samstag begegneten mir in der S-Bahn nacheinander zwei Bettler. Ich kenne sie schon, ich habe sie schon oft gesehen. Ich habe selber einen Sohn, und ich muss mir manchmal vorstellen, und es ist eine sehr quälende Vorstellung, dass er es ist, der dort eines Tages durch die Bahn zieht. Solche Vorstellungen sind wie ein Zwang, sie lassen sich nicht abschütteln, sie quälen einen, und je weniger man sie haben will, desto mehr suchen sie einen heim. Auch aus diesem Grund ist mir die Begegnung mit diesen jungen bettelnden Männern oft sehr unangenehm.

Es ist nicht nur der Umstand, dass sie betteln, es ist vor allem, wie sie betteln, der Zustand ihrer Kleidung, ihr Gang, das Gestammel, immer die gleichen tonlosen Worte, die gekrümmte Hand, der Kaffeebecher, in den die Leute ein Geldstück werfen, die meisten Menschen sehen aber nur weg. Ich selbst werfe manchmal Geld in diese Kaffeebecher, oft aber sehe auch ich weg, wenn ich mein Portemonnaie nicht aus dem vollen Rucksack kramen will.

Einer dieser beiden mir vom Sehen bekannten jungen Bettelnden ist sehr viel mehr als der andere in einem schlechten Zustand. Er schlurft gebückt durch die Gänge, er riecht unangenehm, er murmelt mit leerem Blick immer die selben zwei Sätze vor sich hin. Vielleicht ist er süchtig, ziemlich sicher ist er krank.

Und ich sehe wieder, es ist ein Zwang, meinen eigenen lieben Sohn durch den Gang schlurfen, und da sitzt dann diese harte, diese erbarmungslose Frau, die nur angewidert ist, von seiner Erscheinung und sich abwendet, ihm nicht einen Cent in sein Kaffeetöpfchen legt, und er erwartet es auch gar nicht, er sieht niemanden an, er stolpert so dahin, leiert seinen Spruch hinunter, merkt kaum mehr, was er tut. Und diese erbarmungslose, angewiderte Frau, das bin ich.

Ich sehe wieder, es ist ein Zwang, meinen eigenen Sohn durch den Gang schlurfen
Lou Probsthayn
Katrin Seddig

ist Schriftstellerin in Hamburg mit einem besonderen Interesse am Fremden im Eigenen. Ihr jüngster Roman „Das Dorf“ ist bei Rowohlt Berlin erschienen.

Aber manchmal, denke ich, zu meiner Entlastung, manchmal habe ich ihm schon etwas gegeben. Und diesmal, denke ich, da ist das Portemonnaie wirklich sehr tief vergraben. Und was er wohl mit dem Geld tun würde, denke ich, er würde sich vielleicht Drogen beschaffen, Alkohol, was ihn nur früher ins Grab bringt (alles zu meiner Entlastung). Aber das geht mich nichts an, es steht mir nicht zu, über das Geld, das ich ihm noch nicht einmal gegeben habe, für ihn zu verfügen. Und während ich mir alle diese quälenden Gedanken mache, sagt ein Mann auf der anderen Seite des Ganges: „Der will ja gar nicht arbeiten.“

Verblüfft starre ich ihn an. Es sitzen dort vier Menschen, zwei Männer und zwei Frauen, zwischen fünfzig und sechzig Jahre alt. Sie sind mir schon vorher aufgefallen, als sie mit sehr vielen Taschen am Jungfernstieg eingestiegen sind, weil sie so laut und angeregt miteinander redeten. Sie wickelten gemeinsam etwas aus Geschenkpapier aus, lasen sich eine Geschenkkarte vor. Und dann, als der bettelnde junge Mann schon vorbeigelaufen war, und er kann es auch gar nicht mehr gehört haben, sagt also dieser Mann, der auf der anderen Seite des Ganges sitzt: „Der will doch gar nicht arbeiten.“

Die Frau ihm gegenüber sieht ihn an und verzieht kurz das Gesicht, aber sie sagt nichts dazu, niemand sagt etwas dazu, auch ich sage nichts dazu, ich sitze ja auf der anderen Seite des Ganges mit ganz anderen Leuten und ich denke nur: Wie kann er das wissen? Wie kann er wissen, dass der junge Mann nicht arbeiten will? Er kennt ihn doch gar nicht, er weiß nichts über ihn. Und es ging natürlich nicht darum, dass er nicht arbeiten kann, denn jeder konnte sehen, dass dieser junge Mensch kaum noch irgendetwas konnte, denn er war so hinüber, so vollkommen am Ende, an diesem Abend in der S1, er lief gar nicht mehr selbst durch die Gänge, es war nur noch ein Geist, der irgendetwas wollte, aber auch das nicht mehr sehr.

„Sie müssen ihm ja nichts geben, aber sie müssen nicht noch schlecht über ihn reden!“, sage ich zu dem Mann. Aber leider habe ich das nicht gesagt, das hätte ich sagen sollen, aber ich habe es nicht getan. Drei Obdachlose sind in den letzten Tagen in Hamburg auf der Straße gestorben. Und ich habe nicht einmal so einen Satz sagen können.

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4 Kommentare

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  • Schöner Text, ging mir auch oft so. Seitdem hab ich immer Kleingeld in der Tasche, damit wenigstens das Argument mit dem Portemonnaie-Rauskramen-Müssen nicht mehr zieht. Trotzdem bleibt natürlich die Frage, gibt man denen was, die es am nötigsten haben, oder denen, die einem sympathisch sind. Und lieber weniger größere Beträge oder lieber viele kleine? Es wäre einfacher, wenn mehr Leute spenden würden - auch wenn Spenden natürlich das strukturelle Problem nicht lösen wird, schon klar. Dass - wie im Text - meist diejenigen, die es sich leisten könnten, nix geben und oft auch noch nachtreten müssen, habe ich auch schon öfter beobachtet. Aber umgekehrt ist es ein schönes Gefühl, sich mit denen stumm zu verständigen, die sich auch nicht wegducken. Schade, dass es so wenige sind. Und klar, man kann nicht immer etwas geben, bei vielen ist das Geld am Monatsende ja selbst knapp. Aber die Agressivität, die den Bettelnden oft entgegenschlägt (und die viel mit eigenen Abstiegsängsten zu tun hat) ist erschreckend.

  • Starkes Stück. In einem Nebensatz erwähnen, daß in Hamburg in den letzten Tagen drei Obdachlose auf der Straße gestorben sind und sich ansonsten nur um die eigenen (eitlen) Gedanken kümmern. Klingt nach Generation Selfie, nicht nach TAZ.

  • Ich war mal Zeuge einer Diskussion zwischen einem Bahn-Bettler und einer Dame, die versuchte, ihn ausgerechnet Jesus zu bekehren, dass Betteln Sünde sei. Interessant war seine Antwort: Er tue das nicht für sich, sondern für die Menschen, die ihm Geld geben, weil es diese glücklich mache. Ich fand das einen sehr interessanten Gedanken, mich macht das auch immer glücklich, wenn ich mal einem Bettler etwas gebe.