Junge Geflüchtete kommen zurück: Auf der Flucht von Nord nach Süd
2014 und 2015 flohen noch mehr als 35.000 jugendliche Flüchtlinge nach Schweden. Nun kommen viele zurück – zum Beispiel nach Flensburg.
„Im Jahr 2016 sind 257 unbegleitete Minderjährige nach Flensburg gekommen und 2017 bisher 146“, sagt Clemens Teschendorf, Pressesprecher der Stadt Flensburg. Das seien, hochgerechnet auf das ganze Jahr, zwar mehr als im Vorjahr, „aber endgültig wissen wir das erst, wenn das Jahr vorüber ist“. Der größte Teil der Jugendlichen käme nicht aus Skandinavien, „aber in der Tat beobachten wir zum ersten Mal verstärkt eine Zuwanderung von Nord nach Süd“.
Das hat Gründe: Die schwedische Regierung hat im vergangenen Herbst ihre einst so liberale Asylpolitik erneut verschärft. Seit 2015 hat sie Alterstests und Grenzkontrollen eingeführt, das Bleiberecht und den Familiennachzug eingeschränkt, im Oktober 2016 erklärte sie Afghanistan zum sicheren Herkunftsland und schloss mit der dortigen Regierung ein Rückführungsabkommen. Während 2014 und 2015 über 35.000 unbegleitete Minderjährige – der Großteil aus Afghanistan – nach Schweden kamen, waren es 2016 noch 2.200.
Mit Erreichen des 18. Lebensjahres fallen jugendliche Geflüchtete in Schweden aus der Jugendhilfe, oft werden sie dann direkt in weit entfernte Übergangslager gebracht, von wo aus sie abgeschoben werden. Von den 12.200 Afghanen, über deren Asylanträge Schweden im vergangenen Jahr entschieden hat, wurde mehr als jeder dritte abgelehnt – auch Anträge von rund 600 unbegleiteten Minderjährigen.
Deren Abschiebung ist in Schweden allerdings nur möglich, wenn behördlich festgestellt wurde, dass sie Angehörige in Afghanistan haben, zu denen sie zurückkehren können. Sobald sie volljährig sind, fällt diese Hürde allerdings.
Diese Abschiebepraxis hatte in Schweden von Januar bis März 2016 mehrere Suizide minderjähriger Geflüchteter aus Afghanistan zur Folge. Mindestens sieben Jugendliche haben sich nach Angaben des schwedischen Flüchtlingshilfsnetzwerks Vi står inte ut in dieser Zeit getötet. Aus Angst davor, abgeschoben zu werden, sobald sie volljährig werden.
Mehr als 35.000 unbegleitete Minderjährige kamen 2014 und 2015 nach Schweden, davon 23.000 aus Afghanistan.
Im Oktober 2016 hat Stockholm mit Afghanistan ein Rückführungsabkommen geschlossen, mit dem die Abschiebungspraxis vereinfacht werden soll.
90 Prozent der Asylanträge afghanischer Flüchtlinge in Schweden werden abgelehnt, weil Afghanistan als „sicher“ gilt.
Minderjährige Geflüchtete aus Afghanistan werden in der Regel nicht abgeschoben, erhalten aber eine sogenannte Ausweisungsverfügung, die mit dem 18. Geburtstag in Kraft tritt.
Mehrere in Schweden lebende minderjährige Flüchtlinge aus Afghanistan haben sich seit Januar 2017 aus Angst vor Abschiebung das Leben genommen.
Die genaue Zahl der Selbsttötungen ist nicht bekannt, denn die Jugendlichen werden in Schweden nicht sofort nach ihrer Ankunft registriert. „Viele Jugendliche sehen in Schweden keine Perspektive“, sagt Teschendorf. In Flensburg freilich auch nicht: „Viele werden von uns in Obhut genommen und dann nach dem Königsteiner Schlüssel umverteilt – viele ziehen aber auch nach ein paar Tagen von selbst weiter, wahrscheinlich in größere Städte.“
Hanspeter Schwartz, Sprecher der Bundespolizei Flensburg, berichtet, dass die Polizei fast täglich Geflüchtete am Flensburger Bahnhof und an der dänischen Landesgrenze aufgreife: „Darunter sind durchaus auch hin und wieder Minderjährige, aber auch Erwachsene oder ganze Familien, deren Asylanträge in Skandinavien abgelehnt worden sind.“ Er könne allerdings nicht bestätigen, dass sich unter diesen Migranten und Migrantinnen außergewöhnlich viele alleinstehende Jugendliche befänden.
Das sagt auch Jasmin Azazmah vom Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein. Allerdings sei die Situation für Minderjährige in Schweden in der Tat schlechter als in Deutschland: „Und anders als Erwachsene dürfen Minderjährige zumindest zurzeit noch einen zweiten Asylantrag stellen und werden nicht in das Land zurücküberstellt, in dem sie bereits Asyl beantragt haben.“ Insofern sei es in ihren Augen durchaus sinnvoll, wenn Jugendliche ohne Aussicht auf Asyl Schweden verließen und einen erneuten Anlauf unternähmen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Anbrechender Wahlkampf
Eine Extraportion demokratischer Optimismus, bitte!
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“