Jugendliche in Thüringen: Wir Kinder der Stadt Nordhausen

Bei einem Filmprojekt in Thüringen bestimmen Jugendliche Themen und Szenen. Das zeigt nicht nur die Stärken kultureller Jugendbildung.

Die verlassene Fabrik, in der das Filmprojekt stattfindet, steht synonym für den Leerstand der Stadt Foto: madonnenwerk

NORDHAUSEN taz | Anfangs scheint der Tanz in der alten Fabrikhalle harmonisch. Auf dem ölverschmierten Boden wiegen sich zwei Mädchen zu den Klängen von „Schwanensee“. Zwei taktvolle Schritte, ein Griff nach der Hand, innig herangezogen und ein abrupter Stoß. Die klassische Musik steigert sich. Noch ein Stoß, dann ein Schlag, ein Mädchen geht zu Boden. Mit stolpernden Schritten richtet sie sich auf, fällt erneut und bleibt liegen, während Schwanensee allmählich verstummt. Dieses Mal siegt der Tod über die Liebe.

Die Kamera fährt noch einmal dicht auf das Mädchen am Boden zu, hält auf ihr Gesicht. In der Fabrik riecht es metallisch und chemisch. Massive Betonsäulen tragen das Wellblechdach. Wasser tropft wie leichter Regen in eine Pfütze. Dann steht die 14-jährige Lee auf, läuft lächelnd zurück zur applaudierenden Film-Crew und versucht sich dabei den Dreck vom rechten Ärmel zu klopfen. Szene geschafft, auf zur nächsten.

Die leere Fabrik dient an diesem Montag kurz vor den Sommerferien in Thüringen einem knappen Dutzend Jugendlicher im Alter von 13 bis 15 Jahren als Filmkulisse. Sie arbeiten gemeinsam mit zwei Kamerafrauen, einem Tonassistenten, einem Dramaturgen, einer Visagistin, einer Kostümbildnerin und einer Regisseurin an einem Filmprojekt. Die Idee: In selbstgestalteten Szenen zeigen die Jugendlichen, welche Themen sie bewegen, beschäftigen.

In dem Tanz zu Schwanensee verarbeitet Lee zum Beispiel die Themen Liebe und Zusammenbruch, wie sie etwas später erklärt: „Man denkt, man hat die wahre Liebe gefunden – bis einen der Partner betrügt. Oder umbringt, wie in meiner Szene. Ich spiele da eine Frau, die von ihrem Mann an dem Tag ermordet wurde, an dem sie eigentlich heiraten sollten.“

Eine zurückhaltende Regisseurin

Als Regisseurin leitet Christina Friedrich das Projekt. Sie ist selbst in Nordhausen geboren und aufgewachsen und arbeitete schon in Japan, Marokko, der Schweiz und Israel. Mit den Jugendlichen in Nordhausen hat sie bereits bei zwei weiteren Filmen gearbeitet. Aber dass die dieses Mal maßgeblich selbst die Szenen kreieren, ist neu. Beim Dreh beobachtet Friedrich eher, gibt kaum Anweisungen. Höchstens den Kamerafrauen sagt sie: „Noch näher ran.“ Ist die Kamera aus, regt sie bei den Jugendlichen an, wie sie sich bewegen könnten oder besser ins Licht treten.

Dass Kinder und Jugendliche abseits von Fernsehen und Netflix mit Schauspielerei in Berührung kommen, ist selten. In der letzten Thüringer Kinder- und Jugendbefragung besuchen drei Viertel der Befragten selten oder nie kulturelle Veranstaltungen wie das Theater – geschweige denn, dass sie selbst auf die Bühne traten. So haben sie wenig Möglichkeiten, in andere Rollen zu schlüpfen oder andere Perspektiven einzunehmen. In Kommunen gilt die Förderung für kulturelle Bildungsangebote dann oft als streichbar – obwohl sie zum gegenseitigen Verständnis und damit zum gesellschaftlichen Zusammenhalt beiträgt.

An diesem Montagnachmittag in der Fabrik kurz vor den Sommerferien ist es erst halb fünf Uhr, doch durch die dunklen Wolken ist es düster. Hier ist die Zeit stehen geblieben: Auf allen Fabrikuhren ist es immer kurz nach acht. Von 1991 bis Ende 2020 fertigte der US-Konzern Eaton hier in Nordhausen Ventile für die Automobilindustrie. Dann schloss die Fabrik in der Pandemie, weil Konkurrenz in Asien die Produkte zu geringeren Preisen anbieten konnte. Die leere Industriehalle kaufte der Nordhäuser Unternehmer Axel Heck.

Da Heck die Arbeit von Christina Friedrich inhaltlich gut findet, dürfen sie in der Fabrik filmen. „Das ist nicht selbstverständlich“, betont Friedrich. Für sie ist die leere Brache dabei mehr als alte Mauern mit dickem Wellblechdach. Sie sei ein Trauerort, „der synonym für ganz viele Orte der Stadt steht, in denen etwas nicht mehr existiert. Viele geschlossene Kombinate, also ehemalige Fabriken, das geschlossene Freibad.“ Und es sei ein Ort, an dem die Jugendlichen mit der Biografie ihrer Eltern in Berührung treten.

Bevölkerungsrückgang seit der Wende

Fast vier Jahre steht die Arbeit im Eaton-Werk still. Nicht irgendwo am Stadtrand, sondern kaum zehn Minuten zu Fuß vom Bahnhof entfernt. Die überraschende Schließung erinnert unweigerlich an die Zeit nach der Wende. Auch Nordhausen blieb bei der Wiedervereinigung nicht vom Plattmachen der Betriebe und den damit einhergehenden Jobverlusten verschont. Seit 1990 geht die Ein­woh­ne­r:in­nen­zahl kontinuierlich zurück. Heute leben etwa 41.000 Menschen in der Stadt.

Auf einem gefederten Fahrrad rollt Josephine über den ebenen Boden der Fabrikhalle. Unter dem Dach zwitschert ein aufgeregter Vogel. Ihr Ziehvater hat bis zum letzten Tag in der Fabrik gearbeitet, erzählt die 13-Jährige. Mittlerweile arbeitet er im Sicherheitsdienst. „Ich will später mal in die Veranstaltungstechnik gehen. Da hilft mir die Erfahrung hier auch“, sagt sie über den Dreh. Ihre Anliegen im Film sind Selbstverletzung und Verschmelzung.

Wie kommen die Jugendlichen eigentlich auf die Themen? „Abgesprochen hat sich keiner“, sagt Josephine. Es gehe eben um die eigenen Emotionen, das, was einen bewege. „Wir zeigen anderen Jugendlichen, die das Gleiche durchmachen, dass es normal ist“, sagt sie.

Ihr Kollege Lukas ist schon im Kostüm, trägt einen schwarzen Ledermantel und eine weiße Hemdkrause, wie sie im 17. Jahrhundert beliebt war. Er ergänzt: „Es gibt viele Jugendliche, die ihre Probleme für sich behalten und nicht darüber sprechen. Der Film soll einen Anreiz geben, zu sagen: ‚Das ist normal, ich kann darüber reden und werde nicht ausgelacht oder gemobbt.‘“ Seine Themen im Film sind Glaube und Freude.

Träume von Actionfilmen

Beim Dreh hofft die Tänzerin Lee etwas für ihre berufliche Zukunft mitzunehmen. „Theater, Filmen, Schauspielern, das interessiert mich, und vielleicht möchte ich das mal versuchen, wenn ich erwachsen bin.“ Sie träumt von größeren Projekten, auch von Actionfilmen. Lee wurde in Nordhausen geboren, aber zum Studieren, da träumt sie vom Ausland, etwa England. Die Chancen auf eine große Zukunft in der kleinen Stadt seien gering.

Zu Christina Friedrichs Zeit in Nordhausen an der Schule „Wladimir Iljitsch Lenin“, die mittlerweile abgerissen wurde, lernte sie Akkordeon zu spielen. Damals sei das üblich gewesen. „Es gab monatliche Theaterbesuche, die kostenlos waren.“ Heute sehe das anders aus. „Es gibt da kein durchgehend nutzbares Angebot für Kinder und Jugendliche.“ In Nordhausen noch weniger als in westdeutschen Städten.

Wenig kulturelle Angebote für Kinder und Jugendliche in Nordhausen? Martina Degenhart widerspricht da – zumindest teilweise. Auch sie ist in Nordhausen aufgewachsen und leitet seit 2009 die Jugendkunstschule. „Wir haben in der Stadt ein verhältnismäßig großes Angebot an Kinder- und Jugendarbeit im kulturellen Bereich“, sagt sie. Damit meine sie etwa den Kinderzirkus Zappelini, das Junge Theater oder eben die von ihr geleitete Jugendkunstschule selbst.

Aber ja, räumt sie ein, das Angebot erreiche nicht alle. Wen nicht? Um das zu verstehen, muss man wissen, Nordhausen lässt sich in die Oberstadt und in die Unterstadt aufteilen. Die unterscheiden sich, zugespitzt gesagt, so: In der Oberstadt stehen die Villen, in der Unterstadt stehen die Plattenbauten. Und dort, das stimme, sei wirklich keins der Angebote direkt vor der Tür.

Nicht für alle zugänglich

Zudem, erklärt Degenhart behutsam weiter, motivierten vor allem Eltern ihre Kinder, Zeichnen oder Schauspielern in den Kursen zu lernen. Wie in anderen Bildungsbereichen gilt auch bei der Kultur: Die soziale ­Herkunft beeinflusst maßgeblich, wo es für Kinder langgeht. In der Unterstadt leben mehr Kinder in finanziell schwierigen Verhältnissen, so erzählt es Degenhart.

Doch trotz Gebühren braucht es finanzielle Förderung von der Kommune. „Da wäre ein bisschen mehr Planungssicherheit gut. Wenn die Haushalte eng werden oder der Stadtrat auf andere Bereiche mehr Wert legt, dann sind wir sehr schnell von Kürzungen bedroht.“ Wie das in Zukunft aussieht?

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Ende der Woche wählt Thüringen einen neuen Landtag. Schon bei der Kommunalwahl Ende Mai bekam die AfD in Nordhausen 35 Prozent der Stimmen für den Stadtrat. Auch Martina Degenhart sitzt im Stadtrat, allerdings für die Linke. Sie sei besorgt, ob die Kulturvereine noch weiter gefördert werden.

Die Jugendkunstschule unterstützt das Filmprojekt der Jugendlichen mit Christina Friedrich finanziell und bei der Organisation. Die Regisseurin kenne sie schon eine Weile, erzählt Degenhart. „Wir sind sehr froh, das mit ihr machen zu können.“ Friedrich befähige die Jugendlichen, ihre Ideen auszudrücken und „bündelt das dann zu einem einzigartigen Werk“.

In der Fabrikhalle schaut Christina Friedrich über die Schulter ihrer Kamerafrau. Es ist dunkel, nur ein schwacher Lichtschein fällt von irgendwoher auf die am Boden sitzende Josephine. Sie hat das linke Bein angewinkelt, über Arme und Beine läuft rote Flüssigkeit. Die Finger zu Krallen gekrümmt, fährt sie darüber, als würde sie sich kratzen. Ganz dicht, direkt vor ihr, schwebt die Kamera. Selbstverletzung, auch das ist ein Thema, das Kinder und Jugendliche bewegt.

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