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Jugendämter in BerlinDer Hilfeschrei wird lauter

Die Pandemie verschärft die schwierigen Arbeitsbedingungen in den Jugendämtern. Viele sind nicht mehr arbeitsfähig – weil Handys und Laptops fehlen.

Kinderschutz ist nur eine der vielen Aufgaben von Jugendämtern Foto: Markus Schreiber/AP

Es war ein stiller Hilfeschrei: Vor sieben Jahren hängten Jugendamtsmitarbeiter*innen weiße Fahnen der Kapitulation aus ihren Fenstern. Unzumutbar sei die Arbeitsbelastung. Geändert hat sich seitdem wenig, und nun kommt eine weitere Eskalationsstufe dazu. „Jetzt, in der Pandemie, sind die Jugendämter tatsächlich nicht mehr arbeitsfähig“, sagt Hannes Wolf, Vorsitzender beim Berliner Landesverband des DBSH, dem Deutschen Berufsverband für Soziale Arbeit, der seit Jahren die Proteste der Jugendämter unterstützt.

Nun haben sich Mitglieder des DBSH Berlin, die in verschiedenen Jugendämtern der Stadt arbeiten, erstmals wieder physisch getroffen. Ihre gemeinsame Bilanz war verheerend. Zu den bekannten Widrigkeiten in den Jugendämtern kämen nun nämlich neue dazu: Denn auch sieben Monate nach dem ersten Lockdown besitzen viele Mitarbeitende weder Diensthandy noch Laptops.

Was das konkret bedeutet, weiß Heike Schlizio-Jahnke, ebenfalls Mitglied im DBSH, für den sie auch spricht. Schlizio-Jahnke arbeitet in leitender Funktion in einem der Regionalen Sozialpädagogischen Dienste in Mitte. Diese Dienste sind sozusagen der Basisdienst der Jugendämter, Anlaufstelle für Eltern und deren Kinder, zuständig auch für Kinderschutzfälle. „Die Technik sollten wir eigentlich schon letztes Jahr bekommen, ganz ohne Corona“, erzählt sie. Eigentlich. Als im März der Lockdown kam und die Kolleg*innen zu Hause bleiben sollten, „haben wir selbst ein paar so billige Tastentelefone angeschafft, damit wir arbeiten können“.

Manche Kolleg*innen, heißt es hinter vorgehaltener Hand, hätten ihre privaten Telefone und E-Mail-Adressen benutzt – benutzen müssen. Erlaubt ist das nicht. Laptops gab es aber kaum, alternative Lösungen wie Datentunnel auf den Heimcomputern würden aus Datenschutzgründen abgelehnt.

Smartphone ja, Vertrag nein

Die Smartphones und Laptops seien zwar inzwischen teilweise da, aber die IT-Abteilung schaffe es wegen Überlastung nicht, sie einzurichten, sagt Schlizio-Jahnke. Und von der Finanzverwaltung sei zwar das Geld für die Geräte, nicht aber für den laufenden Betrieb bereitgestellt worden. Es gibt also beispielsweise keine Mittel für Handyverträge. Ohnehin sei nur ein Laptop auf fünf Kolleg*innen vorgesehen – wie das bei einem neuerlichen Lockdown funktionieren soll, weiß keiner.

Videokonferenzen seien mit den Geräten der Jugendamtsmitarbeiter*innen gar nicht möglich. Das ist nicht nur für Dienstbesprechungen in Pandemiezeiten fatal. Vor allem die Hilfekonferenzen, bei denen sich Schulen, freie Träger der Kinder- und Jugendhilfe, Schulpsycholog*innen, Jugendamt und auch die Jugendlichen selbst zusammensetzen, um über Ziele, Probleme und Krisen zu beraten, sind so nur schwer durchzuführen, fallen zum Teil schon jetzt aus. Von den Hilfekonferenzen hängt aber ab, welche Hilfen gewährt und ob Maßnahmen verlängert werden.

„Wir haben auch keine Räume, um das mit den nötigen Abstandsregelungen durchzuführen“, sagt Schlizio-Jahnke. Die Büros der Kolleg*innen seien häufig nicht groß genug, um überhaupt nur eine Familie zu empfangen. „Wir wurden ja immer kleinergespart“, sagt sie. An Besprechungsräumen fehle es ebenso. „Es bleibt so viel liegen.“ Noch immer und trotz jahrelanger Proteste betreuten die Mitarbeiter*innen zwischen 80 und 90 Familien – empfohlen sind maximal 60. „Das schlechte Gefühl wächst“, sagt die Jugendamtsmitarbeiterin.

Notprogramm und eingeschränkter Betrieb

Sozialpädagoge Richard Schade sitzt auf der anderen Seite. Er arbeitet im betreuten Jugendwohnen in Mitte. Bezirksämter, Jobcenter, Schulen – „Alle Strukturen sind derzeit überlastet“, sagt er. „Aber wenn die Jugendämter nicht mehr mitziehen, ist das besonders schlimm.“ Auch er beklagt, dass es immer weniger Hilfekonferenzen gebe. Dabei obliege den Jugendämtern die Fach- und Fallverantwortung, die könne nicht einfach auf die Träger delegiert werden. „Es fehlt die Kontrolle, und der partizipative Aspekt geht verloren, die Jugendlichen haben fast keine Stimme mehr“, bedauert der Sozialpädagoge. Er befürchtet, dass die Brüche in den Biografien der betreuten Jugendlichen und jungen Erwachsenen dadurch noch sichtbarer werden.

Wie ernst die Lage ist, zeigt das Schreiben eines Jugendamtsleiters, das der taz vorliegt. Darin ist von einem Notprogramm und eingeschränkten Dienstbetrieb die Rede: Die Sozialpädagogischen Dienste würden alle verbleibenden Kräfte einsetzen, um den Kinderschutzauftrag sicherzustellen, also die dringende gerichtliche Vertretung von Kindern und Jugendlichen sowie Beratung Hilfesuchender. Das ist aber nur ein Teil ihrer Aufgabe: Den Kooperations- und Leistungsverpflichtungen gegenüber freien Trägern, Schulen, Kliniken, teils auch Gerichten könne man nicht mehr nachkommen.

„Die Arbeitsfähigkeit der Jugendämter ist jederzeit gegeben, insbesondere der Kinderschutz ist jederzeit sichergestellt“, heißt es dagegen aus der Senatsverwaltung für Jugend. Doch auch hier weiß man um die hohe Arbeitsbelastung. 119 der 904 Vollzeitstellen seien berlinweit nicht besetzt – mehr als jede zehnte Stelle. Nach Informationen der taz sind es in einigen Bezirken sogar mehr als 30 Prozent.

Angst vor dem Jahresende

Um die Sozialpädagogischen Dienste zu stärken, sollten alle Mitarbeiter*innen mit Diensthandys ausgestattet werden, im Haushaltsjahr 2020 seien dafür 540.000 Euro zur Verfügung gestellt worden, so die Jugendverwaltung. Weitere 300.000 Euro seien für 180 Laptops und Zugänge zum IT-System der Jugendämter bereitgestellt. Aber: „Aufgrund von Corona und der veränderten Situation ab März 2020 in der Berliner Verwaltung konnten die Jugendämter die umfassende Anschaffung der Smartphones und Notebooks noch nicht abschließend umsetzen.“ Die während der Pandemie notwendige Infrastruktur kann also wegen der Pandemie nicht zur Verfügung gestellt werden.

„Es scheint, dass bei entscheidenden Stellen noch nicht deutlich genug angekommen ist, dass der Sozialpädagogische Dienst im Jugendamt keine optionale Dienstleistung ist“, sagt Hannes Wolf vom DBSH. Es gehe hier nicht um Bescheide und Fristen, sondern um Familien, Kinder und Jugendliche in akuten Krisen. „Die Jugendämter sind die letzten in der Hierarchie, sie können ihren Auftrag nicht weiterdelegieren. Sie müssen bestmöglich ausgestattet werden“, sagt er.

„Und es geht ja gerade erst los“, sagt Schlizio-Jahnke. Zum Jahresende mehrten sich die Krisen und Hilfesuchenden. Folgen der Pandemie, steigende Fallzahlen und sich verschärfende Kontaktbeschränkungen oder ein zweiter Lockdown sind da noch gar nicht einberechnet.

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