Journalist*innen mit Behinderung: Bürde oder Privileg
Ein Mensch mit Behinderung ist für eine Redaktion mehr als das Gesicht der nächsten Diversity-Kampagne. Denn er oder sie sieht, was ihr nicht seht.
Warum sollte ich Menschen mit Behinderung anfragen, wenn nicht aufgrund ihrer Behinderung?“ Diese Frage stellte mir einmal eine Journalistin, als es um die Suche nach Protagonist*innen ging. Die Frage offenbart, wie behinderte Menschen gesehen werden: Vor allem als „die Behinderung“ und nicht als Mensch. Das gilt auch für die Medienbranche.
Eine Behinderung wird von der Gesellschaft oft nur als medizinische Diagnose wahrgenommen und nicht als das, was sie vordergründig ist: behindert werden, zum Beispiel durch fehlende Audiosignale, Stufen oder komplizierte Ausdrucksweisen. Dazu kommen diffuse Berührungsängste von nichtbehinderten Menschen, die viele Prozesse und Entscheidungen lähmen. Man wird ausgeschlossen, als sonderbar eingestuft oder als positive Ausnahme.
Vor allem wird man in eine repräsentative Rolle gedrängt und vertritt immer und überall eine ganze Gruppe; in Deutschland macht diese Gruppe 10 Prozent der Bevölkerung aus.
Auch in Medienhäusern stehen die Chance gut, der oder die Einzige zu sein – mit (sichtbarer) Behinderung. Das ist eine verdammt schwere Bürde, denn davon, wie die Zusammenarbeit mit dieser einen Person läuft, hängt ab, ob auch zukünftig Menschen mit Behinderung eine Stelle bekommen. Diesen Druck spüren behinderte Menschen jeden Tag in ihrem Arbeitsleben.
Journalistin und Referentin bei Leidmedien.de, einem Projekt des Vereins Sozialhelden. „Leidmedien“ will bei Redaktionen Berührungsängste gegenüber Menschen mit Behinderungen abbauen
Ein Rucksack voll Verantwortung
Die repräsentative Rolle in der Redaktion kostet viel Kraft – „nebenbei“ muss man mit journalistischen Höchstleistungen glänzen, das versteht sich von selbst, sonst hat man den Weg für alle anderen verbaut. Die aufgebürdete Verantwortung und das Kämpfen gegen Barrieren sind wie ein schwerer Rucksack, den man ständig mit sich herumschleppt. Und obendrein muss man so tun, als wäre er federleicht.
In den Redaktionen müssten deshalb viel mehr Menschen vertreten sein, die einen anderen Blick auf die Dinge haben, etwa bei der Auswahl von Themen und Protagonist*innen. Und die sensibel sind für klischeefreie Sprache und Bildsprache.
Denn leider sind es sind immer noch die gleichen Phrasen, die im Journalismus im Zusammenhang mit Behinderung vorkommen. Sie handeln von Menschen, die an einer Behinderung „leiden“ oder es „trotz der Behinderung“ geschafft haben, dies oder jenes zu tun. Behinderte Menschen werden dargestellt als Inspiration für die Nichtbehinderten – denn schließlich hat „der Behinderte“ es ja auch geschafft. Es ist eine defizitorientierte Sichtweise, in der ständig „Was kann dieser Mensch (noch)?“ gefragt wird. Anstatt: „Was braucht er oder sie, um ein selbstbestimmtes Leben zu führen?“
Es muss jemanden in der Redaktion geben, der ebendiese Frage stellen kann. Der die Nuancen versteht, der unterscheiden kann zwischen behinderten Menschen und hilflosen Pflegefällen. Es muss jemanden in der Redaktion geben, der behinderte Menschen nicht nur in die Bereiche „Soziales“ und „Medizin“ verortet, der erkennt, dass sie Bürger*innen sind, die man zu jeglichen Themen befragen könnte – weil sie Perspektiven liefern, die anderen fehlt.
Jedes Thema ist ein Thema „mit Behinderung“
Dieser oder diese Jemand müsste im besten Fall eine Behinderung haben. Das Thema „auf dem Schirm haben“ ist gut, selbst damit zu leben, ist besser. Und eine solche Person könnte auch einen frischen Blick auf die Lieblingsthemen der Journalist*innen werfen.
Zum Beispiel auf die Deutsche Bahn, ein Dauerbrenner. Bisher geht es meist um Verspätungen, kaputte Klimaanlagen oder Fahrpreiserhöhungen. Worum es auch mal gehen könnte: dass es die Bahn nach wie vor oft nicht schafft, Menschen mit Mobilitätseinschränkungen zur gewünschten Reisezeit die Mitfahrt zu ermöglichen. Man muss sich als behinderte*r Reisende*r mindestens 48 Stunden vorab anmelden und hoffen, dass Hilfeleistung gewährt wird.
Die Hilfeleistung kommt in Form eines Mitarbeiters mit einem gigantischen Hublift daher, der ausschließlich von diesem einen Menschen bedient werden darf, nicht von Begleitpersonen oder Schaffner*innen – aus Versicherungsgründen. Zwar gibt es in den neuen ICE-Zügen automatische Rampen direkt am Zug, um die Stufen in den Zug zu überwinden. Diese sind aber häufig defekt – und die 48-Stunden-Frist für die Anmeldung hat auch niemand abgeschafft.
Oder auf die Klimakrise – das Vermeiden von Plastikmüll ist in den Verbraucher*innensendungen fast schon zum Wettbewerb geworden. Das ist gut so, nur sollten Menschen mit Muskelerkrankungen nicht dafür verurteilt werden, dass sie Plastikstrohhalme benutzen. Aufgrund ihres geringen Gewichts bedeuten sie Selbstbestimmung beim Trinken. Oder auf das Thema Religion, denn an der Sicht auf Behinderung als Strafe Gottes gibt es einiges zu kritisieren, auch am Konzept der „Heilung“.
„Niemanden gefunden“? Try again!
Sportler*innen mit Behinderung sollten porträtiert werden, weil sie erfolgreiche Wettkämpfer*innen sind. Nicht weil sie ihr „Schicksal“ im Wettkampf „überwinden“. Schauspieler*innen sollten nicht dazu befragt werden, warum sie „trotz Downsyndrom“ nun in einem Film mitspielen. Vielleicht sind sie einfach fähige Schauspieler*innen, die schlicht das Downsyndrom haben – und trotz fehlender Inklusion in der Ausbildung so weit gekommen sind.
Wenn nichtbehinderte Redakteur*innen sagen, sie hätten niemanden mit Behinderung gefunden, der zum Thema Mobilität, Klima oder Religion etwas sagen kann, dann haben sie schlicht ihren Job nicht gut genug gemacht, weil sie die Zugänge zur Community nicht genutzt haben.
Menschen auf Augenhöhe waren behinderte Menschen im bisherigen Leben der Journalist*innen wahrscheinlich nicht, falls überhaupt Begegnungen stattfanden. Behinderte Menschen werden in dieser Gesellschaft nämlich immer noch ziemlich oft aussortiert. Wenn sie überhaupt geboren werden, landen sie auf Förderschulen und in sogenannten Behindertenwerkstätten – Orte fernab des ersten Arbeitsmarkts und anderer Menschen ohne Behinderung.
Die vielfältige Besetzung einer Redaktion ist auch wichtig für die journalistische Nachwuchsförderung. Bisher gibt es in Deutschland vornehmlich Moderator*innen mit sichtbarer Behinderung, wenn es auch um Behinderung in der Sendung geht. Man sollte es allerdings auch akzeptieren, wenn behinderte Reporter*innen ebendieses Thema nicht abdecken wollen, nicht das Gesicht der Diversity-Kampagne der Redaktion sein wollen, sondern einfach nur ihrem Job nachgehen.
Redaktionelle Macht
Journalist*innen sollten auch in der Sprache über behinderte Menschen sensibler werden. Sprache schafft Bewusstsein und ist ein Werkzeug. Wir können stets entscheiden, wie wir das Werkzeug einsetzen. Damit sensibel umzugehen und nicht zu diskriminieren, sollte selbstverständlich für alle von uns und insbesondere für Journalist*innen sein. „Das hat man schon früher so gesagt“ oder „Ich bezeichne die Menschen, wie ich es für richtig halte“ ist eine ignorante Haltung, die auch nicht zu einer diversen Besetzung von Redaktionen führt.
Sprache offenbart die Einstellung gegenüber den Mitmenschen, wenn danach gefragt wird, warum behinderte Menschen überhaupt fernab des Themas Behinderung vorkommen sollten. Eine solche redaktionelle Entscheidung treffen zu können bedeutet, eine ungeheure Macht zu haben und das Bild von diesen Menschen in der Gesellschaft prägen zu können. Diese Macht sollte nicht ausschließlich in den Händen nichtbehinderter Redakteur*innen liegen.
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