Journalistin über Kinderverschickung: „Man hätte die Akten finden können“
Die Kinderverschickungen in BRD und DDR haben viele Betroffene traumatisiert. Lena Gilhaus hat ein Buch und einen Film dazu gemacht.
taz: Frau Gilhaus, beinahe zeitgleich erscheinen Ihr Film und Ihr Buch über Kinderverschickung. Das Buch holt historisch weiter aus. Im Film begleiten Sie Ihren Vater und Ihre Tante nach Sylt, wo beide 1967 zur Kindererholungskur waren. Sie treffen ehemalige Verschickungskinder und Angehörige, die sich mit Ihnen auf die Suche begeben. Entstand zuerst die Idee für den Film oder für das Buch?
Lena Gilhaus: Die Buchidee war zuerst da. Nach meinem ersten Radiobeitrag zum Thema, 2017, gab es enorm viele Rückmeldungen, und alle fragten, warum es keine Literatur, mehr Berichte dazu gäbe. Richtig groß und bekannt wurde das Thema aber erst 2019 durch die Aktivitäten der Bundesinitiative der Verschickungskinder. Die Vorstellung, mit meinem Vater nach Sylt zu fahren, kam für diesen Film erstmals auf, und die Geschichten der anderen Protagonisten, die ich inzwischen seit Jahren begleite, darin zu erzählen.
, Jahrgang 1985, arbeitet als freie Radio- und Fernsehautorin. 2017 veröffentlichte sie die DLF-Reportage „Albtraum Kinderkur“. Sie lebt in Köln.
Sie haben zu den Ihnen bekannten Fällen weiter recherchiert?
Ja, aber erst, als sich die Archive geöffnet haben, konnte ich richtig loslegen. Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe, einst die größte Kinderfahrtmeldestelle, hat ja zunächst abgestritten, dass dort Akten liegen würden. Erst seit zwei, drei Jahren wusste ich, wo und wonach ich suchen soll.
Sie gehen von etwa 15 Millionen Kindern in BRD und DDR aus, die verschickt wurden, viele zur Erholung, nicht aus medizinischen Gründen. Warum wurden massenhaft gesunde Kinder verschickt?
Es gab Heilkuren für Kinder, die Asthma oder Neurodermitis hatten. In die Erholungskur fuhren Kinder, die überwiegend gesund waren. Wer bei der Schuleingangsuntersuchung als zu dünn oder nicht groß genug befunden wurde, bekam einen Erholungsaufenthalt als Indikation. Dieses vordergründige Versprechen eines „gesunden“ Urlaubs am Meer oder in den Bergen verschleierte die Idee dahinter, sogenannte milieugeschädigte Kinder eine Zeit lang aus den Familien herauszunehmen. Im Grunde handelte es sich um eine staatliche Intervention der Jugendbehörden.
Sie sprechen im Film an, dass die Kinderkuren keine Erfindung der Nazis waren. Die Kuren knüpften an die Sozialpolitik und Sozialfürsorge in der Weimarer Republik an?
Eigentlich noch früher. Mit der Industrialisierung entstanden die Anstaltswelten, in denen sich unser Leben heute überwiegend abspielt. Die Eltern sollten in die Fabriken und arbeiten. Aber wohin mit den Kindern? Die mussten verwahrt werden. Damals entstanden Betreuungseinrichtungen, die Schulpflicht wurde eingeführt. Zugleich gingen neue Krankheiten um: Skrofulose, Tuberkulose. Damals kam die Idee von Luft- und Klimakuren auf, um die Menschen aus diesen schädlichen urbanen Milieus rauszuholen.
Warum konnten sich Elemente der Schwarzen Pädagogik in den Kinderkurheimen der 1950er, 1960er Jahre so ungebrochen fortsetzen?
Die Menschen, die in den 50er und 60er Jahren Kinder erzogen haben, hatten ja die NS-Zeit und den Krieg erlebt! Eine ganze Gesellschaft verdrängte ihre Schuld und ihre Traumata, denn eine Kultur der Härte, der Unterdrückung von Gefühlen gab es schon lange. Kinder sollten nicht „verzärtelt“ werden, sie sollten sich in eine Gemeinschaft einfügen, zur Not mit Druck und Gewalt. Diese Erziehungsideale der Schwarzen Pädagogik hatten mehrere Generationen vorher geprägt, die den Nationalsozialismus wahrscheinlich überhaupt erst ermöglicht haben, und sind natürlich nicht einfach mit Kriegsende weg. Fälschlicherweise wird repressive Pädagogik häufig „Nazi-Pädagogik“ genannt. Aber die Nationalsozialisten hatten die Schwarze Pädagogik nicht erfunden. Baldur von Schirach, Reichsjugendführer, wollte die Schwarze Pädagogik – wohlgemerkt nur gegenüber den sogenannten arischen Kindern – sogar überwinden, um eine emotionale Bindung zum „Führer“ aufzubauen und die Familien zu indoktrinieren.
„Verschickungskinder – Missbrauch und Gewalt bei Kinderkuren“, 3. Juli 2023, 23 Uhr, ARD
Wie konnten in den Kinderkurheimen von BRD und DDR so große rechtsfreie Räume entstehen? Es waren doch wahnsinnig viele Institutionen, Verbände, Behörden beteiligt, die hätten kontrollieren können.
Ich würde differenzieren: Nicht alle Kinderkurheime waren Orte der schweren Gewalt gegenüber Kindern. Die Maßnahme der Verschickung finden wir aus heutiger Perspektive höchst fragwürdig. Die Schwarze Pädagogik fand aber auch in Schulen, in den Elternhäusern statt, und es gab es auch Eltern, die ihre Kinder deswegen dahin geschickt haben, weil sie das als Erziehungsanstalt erkannt haben. Gleichzeitig boten die Heime aber ein großes Einfallstor für Machtmissbrauch: weil die Heime teilweise irgendwo in der Fremde, weit entfernt vom Elternhaus der Kinder und häufig örtlich abgeriegelt lagen und es kaum staatliche Kontrollen gab.
Die Abgelegenheit solcher Institutionen ist ein altes Konzept.
Arbeits- und Waisenhäuser gab es schon lange vorher. In den Kinderkurheimen stand in der Nachkriegszeit sehr wenig Personal zur Verfügung, und es waren meist Frauen, die dort Tag und Nacht arbeiteten. Oft waren 20 Kinder einer Person zugeteilt, die sich rund um die Uhr kümmerten. Sie mussten außerdem Nachtschichten machen. Wie will man für die Sicherheit von 25 Kindern als Einzelperson sorgen, wenn man keine strengen Regeln festlegt? Es gab Ertrinkungsfälle, wo eine Erzieherin mit 47 Kindern baden gegangen ist. Wer hat das veranlasst? Wer vorhatte, Kindern Gewalt anzutun und sich da auszuleben, der war sicher eingeladen, in so ein Kinderkurheim zu gehen.
In Ihrem Film erzählen Sie das Schicksal eines Mannes, der von einem Erzieher missbraucht worden ist und sich als Erwachsener das Leben genommen hat. Wieso konnte man den Täter bis heute nicht belangen?
Wir kennen mittlerweile zwei Fälle, die mutmaßlich Opfer dieses Erziehers wurden. Kontrollen gab es sehr wenig. Im Jugendwohlfahrtgesetz ist alle zwei Jahre eine Kontrolle durch die Behörden festgelegt gewesen. Die Kontrolle an sich funktionierte nur durch Meldung der Heime an die Behörden. Sie mussten auch Verletzungen melden, die aber durchgehend „Unfall“ genannt wurden. Dass Verletzungen durch Gewalteinwirkung zustande gekommen sein könnten, diese Idee gab es gar nicht. Die Akten, die ich gelesen habe, haben immer den Eindruck eines ganz bewussten Wegschauens, vielleicht auch Nicht-Wahrhabenwollens hinterlassen.
„Lena Gilhaus: Verschickungskinder. Eine verdrängte Geschichte“, Kiepenheuer &Witsch, 24 Euro
Wie lief die Aufarbeitung für die Heime der Thuiner Franziskanerinnen, die im Film eine wichtige Rolle spielen?
Sie hatten recherchiert, mit dem Ergebnis, dass die Akten vernichtet seien. Aber Sie sehen ja im Film, dass es sehr wohl Akten gibt. Ein Glücksfund im Archiv des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe. Die Akten bezeugen unter anderem, dass ein Kind gestorben ist, ein anderes hinkend nach Hause kam. Die Franziskanerinnen hätten sehr wohl Akten finden können, wenn sie gesucht hätten. Ich möchte aber anerkennen, dass sie sich seit Jahren meinen Fragen stellen, und das ist vorbildlich im Vergleich zu vielen ihrer männlichen Kollegen in der katholischen Kirche.
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