Journalistin Alsu Kurmasheva: Vorwurf unbekannt
Die russisch-amerikanische Journalistin Alsu Kurmasheva wurde in Russland zu 6,5 Jahren Gefängnis verurteilt. Ein Schlag gegen die Pressefreiheit.
Nur auf der Homepage des Obersten Gerichts in der russischen Teilrepublik Tatarstan lässt sich Kurmashevas „Vergehen“ einsehen. „Paragraf 207.3, Fall geprüft am 19. Juli, Schuldspruch“, steht da.
Hinter diesen Zahlen verbirgt sich die sogenannte „Verbreitung von Falschinformationen über die russische Armee“. Jegliche öffentliche Kritik am Kreml und dem Überfall der Ukraine im Februar 2022 zieht in Russland mittlerweile solche „Fakes“-Vorwürfe nach sich.
Russische Medien meldeten, die Anklage gegen Kurmasheva speise sich aus ihrem 2022 veröffentlichten Buch „Nein zum Krieg. 40 Geschichten über russische Bürger, die sich der Invasion in der Ukraine widersetzen“. Was der 47-Jährigen konkret zur Last gelegt wird, ist auch nach dem Gerichtsentscheid nicht bekannt.
Ähnlichkeiten und Unterschiede zum Fall Gershkovich
Das Urteil gegen die Journalistin war in Kasan, der Hauptstadt von Tatarstan, am selben Tag gefallen wie auch das gegen den US-Korrespondenten Evan Gershkovich in Jekaterinburg am Ural. Ein Gericht hatte den 32-jährigen vergangenen Freitag wegen angeblicher Spionage zu 16 Jahren Strafkolonie „strengen Regimes“ schuldig gesprochen. Ebenfalls nach nur drei Prozesstagen, ebenfalls in einer geschlossenen Verhandlung, ebenfalls unter fadenscheiniger Begründung.
Gershkovich, der für das Wall Street Journal schrieb und wie alle Auslandskorrespondent*innen beim russischen Außenministerium akkreditiert war, soll – so folgte das Gericht den Vorwürfen des russischen Geheimdienstes FSB und der Staatsanwaltschaft – „im Auftrag der CIA geheime Informationen über Herstellung und Reparatur von Militärtechnik durch den Rüstungsbetrieb Uralwagonsawod gesammelt und dabei Methoden der Konspiration beachtet“ haben.
Der in den USA als Sohn sowjetischer Emigranten geborene Gershkovich bestritt jegliche Schuld, wie die in der kasachischen Sowjetrepublik geborene Alsu Kurmasheva. Menschenrechtler*innen und Politikbeobachter*innen sprechen in Russland von einem sogenannten Austauschfonds westlicher Staatsbürger*innen – vor allem amerikanischer –, damit das russische Regime im Westen verurteilte russische Verbrecher freipressen könne.
Die Fälle von Kurmasheva und Gershkovich sind dennoch unterschiedlich, obwohl sie zeigen, dass unabhängige Berichterstattung aus Russland immer schwerer gemacht wird, dass Journalist*innen, inländische wie ausländische, immer stärker ausloten müssen, wie es um ihre Sicherheit steht, wenn sie aus dem Kriegsland berichten wollen, das den Krieg in der Ukraine im Alltag negiert und doch täglich seine Söhne zu Grabe trägt.
Kurmasheva ist Radiojournalistin und arbeitete für das russischsprachige Internetmedium Idel.Realii, einen Ableger des vom US-Kongress finanzierten Radio Free Europe/Radio Liberty (RFE/RL), in Russland als „unerwünschte Organisation“ gebrandmarkt. Alle russischen Bürger*innen, die für eine solche arbeiten, machen sich strafbar.
Gefährliche Doppelstaatsbürgerschaft
Aus Prag in Tschechien informiert Idel.Realii über die Wolga-Region und ethnische Minderheiten und Menschenrechte in den russischen Teilrepubliken Tatarstan und Baschkortostan. Auch Kurmasheva war aus Kasan nach Prag gezogen, kam aber wegen eines „familiären Notfalls“ im Mai 2023 zu ihrer Mutter zurück nach Tatarstan. Als sie wieder wegfliegen wollte, wurde sie an der Grenze festgehalten. Der Vorwurf: Kurmasheva habe ihren US-Pass nicht offiziell gemeldet.
In Russland ist es eine Straftat, die doppelte Staatsbürgerschaft vor den Behörden zu verheimlichen. Der Geheimdienst entzog ihr, deren Mann und zwei Töchter in Tschechien leben, beide Pässe. Im Oktober warfen die Behörden ihr vor, sich nicht als „ausländische Agentin“ registriert zu haben und setzten sie fest.
Die Journalistin, die auf Russisch berichtete, soll Informationen über das russische Militär gesammelt haben, die „gegen die Sicherheit der Russischen Föderation genutzt werden könnten“, so die Vorwürfe.
Die Doppelstaatsbürgerschaft wurde Kurmasheva zum Verhängnis. Für die russischen Behörden ist sie eine Russin, keine Ausländerin wie der Amerikaner Gershkovich. Sie kann nicht einmal auf Beistand der US-Botschaft hoffen, denn Russlands Offizielle lassen das nicht mehr zu.
Kurmasheva wird in den Augen der Geheimdienste erst zur Amerikanerin, wenn sie mit ihr – wie auch mit Gershkovich – ihre Tauschgeschäfte machen können.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin