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Jobsuche bei Menschen mit BehinderungEin Ordner voller Absagen

Für Menschen mit Behinderung ist die Jobsuche auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt oft frustrierend. Die gesetzliche Pflicht zur Inklusion reicht nicht.

Jörn Neitzel hat seinen Job gefunden – doch suchen musste er trotz Ausbildung 20 Jahre Foto: Philipp Nöhr

Bremen taz | Die Tür zu seinem neuen Arbeitsplatz steht weit offen, als Jörn Neitzel vom Bürgersteig des Buntentorsteinwegs rechts abbiegt und zu seinem Schreibtisch fährt. Eine Tastatur, zwei Bildschirme, dazwischen Holz und ein Headset – so normal sieht seit einigen Monaten sein Büroalltag aus.

Es ist eine Normalität, über die Neitzel glücklicher nicht sein könnte: Er hat einen Job. Seit Oktober letzten Jahres arbeitet Neitzel als Auszubildender zum redaktionellen Mitarbeiter, seitdem hat er einen eigenen Schreibtisch und verfasst barrierefreie Texte für die Bremer Kommunikationsagentur „selbstverständlich“. Doch das war lange anders.

„Ich war 20 Jahre lang arbeitslos“, erzählt der 44-Jährige. Von Geburt an hat Neitzel eine Spastik, in seinen Bewegungen ist er stark eingeschränkt und sitzt im Rollstuhl. Nach seiner Ausbildung zum Bürokaufmann hatte er sich zwei Jahrzehnte lang auf Stellen auf dem freien Markt und im öffentlichen Dienst beworben – ohne jeden Erfolg. „Irgendwann habe ich mich auch gefragt: Braucht mich die Gesellschaft überhaupt?“, sagt Neitzel. „Es ging mir ja nicht darum, das große Geld zu verdienen. Aber ich wollte nicht den ganzen Tag zu Hause sitzen – das war für mich nicht der Sinn des Lebens.“

So wie Neitzel ging und geht es in Deutschland vielen Menschen mit Behinderung. Nur knapp jeder Dritte der rund zehn Millionen Menschen mit Behinderung in Deutschland ist laut Daten des Statistischen Bundesamtes derzeit berufstätig. Zum Vergleich: Bei Menschen ohne Behinderung sind es mit 65 Prozent im Verhältnis rund doppelt so viele.

Viele große Unternehmen entziehen sich ihrer Verantwortung

Jörn Neitzel, Bürokaufmann

Bereits 2009 hatte die Bundesregierung die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert, die unter anderem eine gleichberechtigte Teilhabe am Arbeitsmarkt fordert. Der Bremer Landesbehindertenbeauftragte Arne Frankenstein glaubt, dass Bremen seitdem zwar „schon erhebliche Schritte in Richtung einer inklusiven Gesellschaft“ gemacht habe. „Aber wir stehen immer noch am Anfang einer Entwicklung.“

Frankenstein sieht vor allem im Übergang von den Schulen auf den Arbeitsmarkt ein großes Problem. „Es darf keinen Automatismus geben, dass Menschen mit Beeinträchtigungen dann nur Angebote aus Behindertenwerkstätten nutzen“, so Frankenstein.

Wie schwer es ist, aus diesem Automatismus auszubrechen, hat auch Laura Ellinghaus erlebt. Sie arbeitet heute am Empfang des Bremer Martinclubs, einem Verein, der Menschen mit Behinderung begleitet und betreut. Doch ihr Weg zu dieser Teilzeitstelle im allgemeinen Arbeitsmarkt gestaltete sich schwierig – trotz Realschulabschluss und abgeschlossener Ausbildung zur Fachkraft für Bürokommunikation. „Gerade behinderte Menschen müssen auf dem Arbeitsmarkt noch einen dickeren Dickschädel haben als andere,“, sagt die 25-Jährige.

Nach ihrem Schulabschluss in Bremen-Nord habe sie sich alleine gelassen gefühlt. Vom Arbeitsamt habe sie direkt die Empfeh­lung bekommen, zum Berufsbildungswerk für Menschen mit Behinderung zu gehen. Das habe sie frustriert – denn sie habe zwar eine Körperbehinderung, aber könne trotzdem lesen, rechnen und schreiben wie jede andere auch. Ellinghaus lebt von Geburt an mit einer Rückenmarkserkrankung, an manchen Tagen ist sie auf ihren Rollstuhl angewiesen. „Das ist meine Realität“, sagt sie. Doch mit dieser Realität seien viele Ar­beit­ge­be­r:in­nen auch heute noch überfordert.

„Ich habe zu Hause einen Ordner mit Absagen“, sagt Ellinghaus. Alleine im letzten Jahr habe sie 80 Bewerbungen geschrieben, oft hätten Unternehmen ihr direkt abgesagt – selbst wenn in den Stellenausschreibungen vermerkt war, dass Menschen mit Behinderung bevorzugt eingestellt werden. „Teilweise war dann dieselbe Stellenausschreibung zwei Wochen später wieder online“, sagt Ellinghaus. Die konkreten Gründe für die Absagen habe sie nie erfahren – nur, „dass schon jemand anderes gefunden wurde“.

Dabei sind in Deutschland Unternehmen gesetzlich dazu verpflichtet, Menschen mit Schwerbehinderung einzustellen: Betriebe mit mehr als 20 Beschäftigten müssen laut Sozial­gesetzbuch mindestens fünf Prozent ihrer Arbeitsplätze mit Menschen mit Behinderung besetzen. Und auf den ersten Blick scheint die Wirtschaft auf einem guten Weg zu sein: So erreicht die Beschäftigungsquote von Menschen mit Schwerbehinderung in Deutschland mit 4,6 Prozent bereits fast das gesetzliche Minimum, wie das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft schreibt.

Ausgleichsabgaben statt Inklusion

Bei näherem Hinsehen sieht die Inklusion in Unternehmen weniger erfolgreich aus: Auch wenn die Fünf-Prozent-Quote erreicht wäre, hätten längst nicht alle potentiellen Ar­beit­neh­me­r:in­nen mit Schwerbehinderung eine Stelle – die Quote ist dafür nicht hoch genug. Und mehr als die Hälfte der 130.000 Unternehmen mit mehr als 20 Beschäftigten unterschreiten die geforderte Beschäftigungsquote, rund ein Viertel von ihnen haben gar keinen Menschen mit Schwerbehinderung eingestellt.

Stattdessen zahlen diese Unternehmen lieber eine Ausgleichsabgabe von bis 320 Euro monatlich je unbesetztem Pflichtarbeitsplatz. „Für diese Betriebe sollte die Ausgleichsabgabe erhöht werden“, so Frankenstein, „um die Erwartungshaltung deutlich zu machen, dass es sich um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe handelt, die Teilhabe am Arbeitsleben sicherzustellen.“

„Viele große Unternehmen entziehen sich da ihrer Verantwortung“, sagt Jörn Neitzel. Umso glücklicher ist er darüber, nach rund zwei Jahrzehnten Jobsuche endlich ein Unternehmen gefunden zu haben, das ihn mit seiner körperlichen Beeinträchtigung eingestellt hat. „Hier kann ich mich weiterentwickeln“, sagt er. Neitzel fährt ein Stückchen näher an seinen Schreibtisch heran, an seinem Computer öffnet er die Aufgabenliste von heute. Es gibt noch einiges zu tun.

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2 Kommentare

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  • Nicht nur die Jobsuche ist für Menschen mit einer Beeinträchtigung schwierig und oft frustrierend, auch das Fortkommen im Alltag ist in einem verdichten Stadtteil wie Findorff auf den illegal zugeparkten Straßenzügen nahezu unmöglich.

    Dabei sollte auch die Wahrung der Rechte von mobilitätseingeschränkten Menschen mit Rollatoren und Rollstühlen eigentlich auch in unserem Stadtteil eine Selbstverständlichkeit sein.

    Jetzt zeigt sich seit einigen Wochen im eigentlich aufgeklärt-liberalen Findorff: Wenn es konkret wird, die Rechte von schwächeren VerkehrsteilnehmerInnen, die sich auch ausdrücklich in den Vorgaben zur Auslegung und Umsetzung der StVO durch die Verwaltung wiederfinden, endlich auch bei uns im Stadtteil umzusetzen, wird es schnell seltsam.

    Verbal fordert man in schöden Lippenbekenntnissen die Rechte von mobilitätseingeschränkten Menschen mit Rollatoren und Rollstühlen SELBSTVERSTÄNDLICH auch, aber diese Rechte tatsächlich mittels »Bewohnerparken« endlich konsequent auch im Stadtteil umsetzen? Dagegen gibt es dann plötzlich ganz viele Bedenken. Angst (vor Veränderung) essen Seele auf? Wohl weniger. Stattdessen:

    MEIN Auto. MEIN Gewohnheitsrecht. MEIN »Parkplatz«.

    Da fragen offensichtlich uninformierte Beiratsmitglieder aus ansonsten brav rechtsstaatlich orientierten Parteien plötzlich ernsthaft in einem Antrag: Welche Ausnahmen von StVO können wie gemeinsam »erwirkt werden?«

    Was diese Beiratsmitglieder eigentlich wissen sollten: Von der Straßenverkehrsordnung können »gemeinsam« keine Ausnahmen »erwirkt« werden: Die Straßenverkehrsordnung ist Bundesrecht. Das gilt auch für Bremen und sogar in Findorff.

    Echte oder vorgeschobene Unwissenheit entschuldigt am Ende eines jahrelangen Prozesses nicht alles:

    Ich finde die vorgebrachten Argumente mit ihrer fatalen Mischung aus Egozentrik und Egoismus mit Hinblick auch die schwächsten VerkehrsteilnehmerInnen mittlerweile weitaus ärgerlicher als nur peinlich.

    Ich finde sie verlogen.

  • Ich habe denselben Ordner mit Absagen aus mehr als zwei Jahrzehnten bis einschließlich heute. Die Universitäten sind da nicht besser, exzellent schon gar nicht auf der Ebene der Berufung von Personen mit Schwerbehinderung auf einen Lehrstuhl. Versuchen Sie mal als Person mit Autismus, die alle wissenschaftlichen Qualifikationen vorweisen kann, eine Professur zu bekommen. Sie werden an der universitären und wissenschaftlichen Starmania und dem dahinter liegenden, verwalteten und verwaltendem Denken scheitern.