Jetzt regiert Franziska Giffey: Die glaubhaft Unbeschwerte
Franziska Giffey (SPD) ist Berlins erste Regierende Bürgermeisterin. Ihre ungekünstelte Art ist für manche noch gewöhnungsbedürftig.
Da wäre zum Beispiel jener Wahlkampftermin auf dem Euref-Campus in Schöneberg Ende Juni, offenbar so unwichtig, dass die Medienbegleitung außer der taz minimal ist. Giffey lässt sich verschiedene Projekte zeigen und erklären, bei denen es meist um Nachhaltigkeit geht. Eins ist ein Unternehmen für Lastenräder – nicht die mit der Holzkiste in der Mitte, sondern die Vierräder mit dem übermannshohen Kasten hinter dem Sitz.
Die Jungunternehmer erklären begeistert viel, und ebenso begeistert hört Giffey zu. Auch das Angebot, sich mal hineinzusetzen, nimmt sie an. Das kann dann so aussehen wie bei der damaligen Bezirksbürgermeisterin, ihrer SPD-Parteifreundin Angelika Schöttler, die mit ihr gekommen ist: sich reinsetzen, einen Mitarbeiter ein Foto machen lassen und gleich wieder aussteigen. Bei anderen Gelegenheiten kommt es auch vor, ein paar Meter zu rollen, um ein paar schöne Fernsehbilder zu produzieren.
Bei Giffey sieht das anders aus: Reinsetzen, losfahren, auf den Geschmack kommen, weiterfahren, um die Ecke biegen, aus dem Blickfeld geraten. „Wir hatten also mal eine Spitzenkandidatin“, sagt ein SPDler aus ihrer Begleitung. Zwei lange Minuten später ist Giffey wieder da. „Hat Spaß gemacht“, sagt sie. Naiv? Wer könnte das sagen über eine Frau, die acht Jahre erst Stadträtin und dann auch
Bürgermeisterin von Berlins problembeladenstem Bezirk Neukölln und danach viel gefeierte Bundesfamilienministerin war?
Es wird generell viel belächelt, wenn eine Führungsfigur seine oder ihre Leidenschaften auslebt und nicht durchweg kontrolliert-kühl daherkommt. Wie viel indigniertes Kopfschütteln gab es doch, als sich Giffey bei einem inzwischen legendär gewordenen Besuch bei der Klausurtagung der Berliner SPD-Fraktion 2020 in Nürnberg für eine neue Broschüre begeistern konnte. Dieses Begeistern, das ist nicht zu lernen oder mittels teurem Coach antrainierbar – das hat man oder frau oder eben nicht. So wie es auf der anderen Seite bei vielen männlichen Politikern gekünstelt wirkt, wenn die plötzlich hemdsärmlig daherkommen und in abgekupferter Schröder-Manier beim Grillfest leutselig nach einer Flasche Bier rufen.
Es ist ja nicht so, dass Giffey nicht auch gerne ein schönes Bild mit dem Lastenrad fürs Fernsehen produziert. Aber warum nicht das Nützliche mit dem Spaßigen verbinden und eine längere Runde drehen? Das nachzuvollziehen geht vielen ab. Giffey, von der sich im Fotoarchiv nur ganz wenige Aufnahmen in Jeans finden, mag es noch so wichtig sein, dass gewählte Volksvertreter nicht „so dahergeschlumpst“ wirken oder den Eindruck machen, als kämen sie gerade vom Campingplatz. Doch wenn es darum geht, schnell Kontakt auf zunehmen und etwas zu kommunizieren, arbeitet sie nicht mit vorheriger Anmeldung und Einladung auf Büttenpapier, sondern auch auf Zuruf.
Fast fünf Jahre zurück liegt die Begegnung auf dem Flur der Senatsverwaltung für Verkehr: zwei taz-Redakteure auf dem Weg zur neuen Senatorin, Giffey auf dem Weg raus von einem anderen Termin im Haus. Man ist in Eile, sie auch, aber als sie nach kurzem Gruß vom Besuchsgrund hört, ruft sie den tazler im Gehen noch ein Anliegen hinterher: Man solle unbedingt darauf drängen, dass die U7 zum Flughafen verlängert würde. Unter der damaligen Senatorin passierte das nicht, jetzt, unter Giffey Führung, steht es im Koalitionsvertrag.
Auch wenn ihr etwas nicht passt, sagt sie es in gleicher Weise, statt es die Etikette wahrend zu ignorieren: Als jemand beim Talk im taz-Café im September ihren Namen zum wiederholten Male falsch so ausspricht, dass der am Ende wie „äih“ klingt, grätscht sie rein: „Nein, mit -ei, wie in Norderney. „Äih“ werde das bei Katharina Barley ausgesprochen, ihrer früheren Ministerkollegin im Bundeskabinett.
Wegen solcher und ähnlicher Momente sehen manche bei ihr etwas Gouvernantiges, im schlimmsten Fall wie bei der Prusseliese in der „Pippi Langstrumpf“-Verfilmung. Das kann schon sein – bei diversen Pressekonferenzen während der Koalitionsverhandlungen ließ sich bei Giffey dieser prüfende Seitenblick beobachten, wenn neben ihr etwa die Grüne Bettina Jarasch redete. Die Frage ist bloß: Schadet ihr dieses Image? Und noch wichtiger: Schadet das der Stadt?
Es schadet ihr auf jeden Fall nicht bei denen, die einen Großteil der Berliner Wirtschaft am Laufen halten. Giffey ist knapp ein Jahr Bundesministerin, als sie 2019 bei der Industrie- und Handelskammer, kurz IHK, zu Gast ist, in deren Reihe wirtschaftspolitischer Frühstücke. Dort sitzt regelmäßig jede Menge jener alten weißen Männer, die Frauen angeblich nur belächeln oder nicht nach oben kommen lassen, Leute, die neben intellektuellen Kreisen am ehesten dafür infrage kämen, Giffey Naivität zu unterstellen.
An jenem Tag sind es sogar ein paar mehr, weil ein Kabinettsmitglied auch bei Deutschlands größter IHK nicht jede Woche vorbeischaut, einschließlich ein paar Jüngerer und einiger Frauen. Doch es sind eben nicht nur die Letztgenannten, die nach Giffeys eineinhalbstündigen Auftritt so ausdauernd applaudieren, dass die IHK selbst den Beifall „in den Top 3“ der vorangehenden 15 Jahre verortet. Sie rockt den Saal, wie es neuerdings heißt, vor allem mit ihrem Ansatz, Politik verständlicher zu machen, der sich in prägnanten Überschriften wie „Gute-Kita-Gesetz“ oder „Starke-Familien-Gesetz“ niederschlägt. Das passiert alles zu einem Zeitpunkt, da längst nicht sicher ist, dass nicht ab 2021 doch wieder die CDU wieder Berlin regiert.
Es gibt Menschen, die behaupten, außer solch viel zitierter Überschriften hätte Giffey nichts zu jenen Gesetzen beigetragen. Selbst wenn das so wäre: Kaum eine andere Ministerin – und es waren seit 1985 nur Frauen – hat dem Familienressort mehr Öffentlichkeit und damit mehr Rückhalt für seine Arbeit beschert als sie.
Für die Unternehmer in der IHK birgt ihr pragmatischer, bürgernaher Ansatz die Hoffnung darauf, dass eine Regierende Giffey dieses Prinzip auf die komplette Verwaltung überträgt, Antrags- und Genehmigungsverfahren entschlackt und damit verkürzt. Für Berlin als Ganzes bleibt zu hoffen, dass sich ihre „überbordende Fröhlichkeit“ – um abschließend noch mal den Spiegel-Kollegen zu zitieren – in gleicher Weise niederschlägt.
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