Japanischer Krimi „Der Dieb“: Die Kunst des Klauens
Eine Meditation über Beruf, Verbrechen und das Leben als Outlaw: Fuminori Nakamuras „Der Dieb“ ist eine Entdeckung.
Wenn er arbeitet, ist der Dieb ganz bei sich. Sobald er mit großer Präzision Zeige- und Mittelfinger in eine fremde Mantel- oder Hosentasche schiebt und rasch inklusive Beute wieder herauszieht, ergreift ein irre angenehmes Kribbeln von seinem ganzen Körper Besitz. Einerseits.
Denn andererseits gibt es bei ihm im Augenblick des Zugreifens einen innigen Kontakt zum Bestohlenen, es ist, als flösse ein anderer Mensch in ihn hinein, ein anderes, ein „warmes, freundliches Gemüt“ oder „das ganze angenehme Leben“, das das Opfer „mit seiner Frau genoss“, wie er einmal bemerkt.
Der da klaut und sich beim Leben anderer bedient, ist natürlich auch der Autor selbst, Fuminori Nakamura. „Der Dieb“, das erste ins Deutsche übersetzte Buch des daheim mit Preisen überhäuften Japaners, wird als Thriller beworben, der es auch ist – aber eben nicht nur und nicht in erster Linie. Die Presse in den USA und in Großbritannien, wo immerhin schon drei seiner mehr als zehn Romane übersetzt vorliegen, preist Nakamura als „Wunderkind“.
Dabei ist der erstens inzwischen 38 Jahre alt und weiß es zweitens besser. Er weiß, dass das erfolgreiche Ausüben eines Berufs nicht auf Wunder zurückzuführen ist, sondern Geschick erfordert und viel Übung plus eine gewissen Leidenschaft.
Perfektion, Professionalität, Einsamkeit
„Als ich noch klein war, habe ich es oft vermasselt“, lautet der erste Satz von „Der Dieb“. Wenn ihm die Dinge beim Klauen wieder entglitten, tauchte immer ein von Nebel umhüllter Turm vor seinen Augen auf. Jetzt sieht er ihn nicht mehr, den Turm, denn ihm passieren „solche Fehler nicht mehr“; auch, weil er sich regelmäßig die Finger an heißem Dosenkaffee wärmt, den es offenbar in Tokio an jeder Straßenecke gibt. Um Professionalität geht es. Da hallt gleich in den ersten Zeilen ein ganzes Genre wieder, das eigentlich von Auftragskillern bevölkert wird, eher im Film als in der Literatur anzutreffen ist. Ein Genre, in dem Stolz auf die eigene Perfektion, Einsamkeit und ein Leben außerhalb der Gesellschaft eine große Rolle spielen.
Doch dabei, bei einem Menschen auf der Höhe seines Könnens, kann es natürlich nicht bleiben. Wenn alles immer glatt liefe, bräuchte es keine Romane und Thriller schon gar nicht. Für Nakamuras Dieb, dessen Name so unwichtig ist, dass er nur einmal im Text kurz aufblitzt, bringt die innige Beziehung zu einem kleinen Jungen die Wende. Von der Mutter, die mit mäßigem Erfolg als Prostituierte arbeitet, wird der Kleine zum Ladendiebstahl angehalten.
Während der Dieb noch schwankt, ob er ihn besser retten kann, wenn er ihn sein Handwerk lehrt oder wenn er ihn davon abhält, so zu werden wie er, sieht Gangsterboss Kizaki in dem Jungen längst die Achillesferse des Diebs, den er schon lange in seine finsteren, die großen Tiere der Politik betreffenden Machenschaften einbinden will.
Fuminori Nakamura: „Der Dieb“. Aus dem Japanischen von Thomas Eggenberg. Diogenes Verlag, Zürich 2015, 224 Seiten, 22 Euro.
Damit ist der wunderbar minimalistische Plot, den Nakamura in eine ebenso minimalistische Sprache verpackt, auch schon hinreichend umrissen. Wichtiger ist der Turm, der nun wieder auftaucht, immer wieder, an den unmöglichsten Stellen in der Stadt, und der vielleicht der Autor ist, der aus der Ich-Erzählung regelmäßig hervorlugt, oder der Gangsterboss, der den Dieb seit Jahren beobachtet, der auf jeden Fall die Stimmung einer panoptischen Situation verbreitet und nichts Gutes bedeuten kann. Die Freundin, die der Dieb mal hatte – Saeko, die nun tot ist –, konnte den Turm auch sehen. Sie mutmaßt einmal während einer Liebesnacht, es ginge ihm gar nicht ums Geld. Der Dieb gerät ins Grübeln. „Vielleicht das Ende“, stößt er dann hervor. „Wenn ich voraussehen könnte, wie das eigene Ende wird. Das Ende von jemandem, der so lebt wie ich.“
Man denkt an Dostojewskis „Schuld und Sühne“, angesichts der klaustrophobischen Stimmung an Kafka, und überhaupt, dass „Der Dieb“ eine sehr philosophische Meditation über Beruf, Verbrechen und das Leben als Outlaw ist. Aber Nakamura macht das mit sozusagen ganz geschmeidigen Fingern, unprätentiös, und steht dabei mit beiden Füßen fest in der internationalen Popkultur.
All Along the Watchtower
Denn es müsste schon nicht mit rechten Dingen zugehen, wenn sein Dieb und sein Turm nichts mit Bob Dylans „All Along the Watchtower“ zu tun hätten. „There must be some kind of way out of here, said the joker to the thief“, lauten da die ersten Zeilen über zwei Typen, die von außen auf die Gesellschaft blicken und irgendwie weise sind, und dann aber doch die Dummen.
Am Ende kriegt der Dieb auch seine zwei Reiter, wie in dem Song. Nur gibt es danach kein Gitarrengegniedel. Nakamura schließt seine literarische Präzisionsarbeit mit einem perfekt bemessenen Ende. Der Ort: eine enge Gasse zwischen hohen Mauern. Von hier aus sieht man keinen Turm. Und kein Turm erlaubt einen Blick hinein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Getöteter General in Moskau
Der Menschheit ein Wohlgefallen?
Sturz des Assad-Regimes
Freut euch über Syrien!
Grünes Wahlprogramm 2025
Wirtschaft vor Klima
Weihnachten und Einsamkeit
Die neue Volkskrankheit
Bombenattentat in Moskau
Anschlag mit Sprengkraft
Foltergefängnisse in Syrien
Den Kerker im Kopf