: Jahrhundertbeben in Taiwan
Das schwerste Erdbeben des Jahrhunderts hat in Taiwan 1.455 Tote und über 3.800 Verletzte gefordert. Stromausfälle und die Angst vor Nachbeben haben die Insel stillgelegt. Die taiwanesische Armee wurde eingesetzt ■ Aus Taipeh André Kunz
Stockdunkel sind die Straßenzüge in Taipeh. Eine ungewohnte Sicht in der sonst von Leuchtreklamen blitzenden Stadt. Bald 24 Stunden nach dem heftigen Erdstoss von 8,1 auf der Richterskala gibt es nur in wenigen Luxushotels und wichtigen Bürogebäuden noch Licht. Dort versammeln sich derzeit Familien, die ihre Wohnungen verloren haben und verfolgen auf dem Bildschirm die Bergungsarbeiten in den am härtesten betroffenen Gebieten in Zentraltaiwan und am Rande der Hauptstadt.
1.455 Tote wurden gestern bis Einbruch der Dunkelheit geborgen. Die schlimmsten Verwüstungen erlebten die zentraltaiwanischen Kleinstädte Nantou und Puli. Allein in diesen beiden Orten sind mehr als 800 Tote und fast 2.500 Verletzte zu beklagen. Im ganzen Land sind mehr als 3.800 Menschen verletzt worden. Noch immer werden 1.300 vermisst.
Trotz der ergreifenden Bergungszenen am Bildschirm bleiben die Menschen gefasst. Die Familie Sung aus dem Arbeiterbezirk Xindian in Taipeh flüchtete ins Hotel. Frau Sung erzählt: „Zuerst kam es wie ein Schlag. Dann rüttelte unser Block, ächzte und Möbel fielen um.“ Die Wohnung der Sungs ist halb zerstört. Sie haben ihre Wertsachen eingepackt, übernachten im Hyatt und wollen sich heute bei Verwandten in einem anderen Stadtteil einquartieren. Sie wissen noch nicht, wo sie längerfristig wieder leben können. In gleichen Stadtteil brach auch ein siebenstöckiges Hotel zusammen und begrub 63 Menschen unter sich.
Noch sitzt der Schock des Bebens bei der Bevölkerung zu tief, um schon über Verzögerungen oder Pannen bei den Bergungsarbeiten nachzudenken. Anders als bei dem vergleichbaren Erdbeben in der japanischen Stadt Kobe, wo 1995 mehr als 6.000 Menschen ums Leben kamen, klappen die taiwanesischen Katastropheneinsätze offensichtlich besser, weil auch die Armee sofort zum Einsatz abberufen wurde.
Taiwan ist vorbereitet auf Erdbeben. Im vergangenen Jahr forderte ein Beben von 6,1 auf der Richterskala 61 Todesopfer. Anders als in der Türkei hat Taiwan glücklicherweise schon Mitte der 60er-Jahre strenge Bauvorschriften für erdbebensichere Häuser erlassen. Die großen Zerstörungen um das Epizentrum in Puli und Nantou zeigen aber, dass in kleineren und abgelegenen Orten diese Bauvorschriften wohl nur teilweise umgesetzt wurden.
Nach ersten Schätzungen sind allein in diesem Gebiet über 3.000 Häuser zerstört worden. Im ganzen Land wird die Zahl der beschädigten Bauten auf über zehntausend geschätzt. Der taiwanische Präsident Lee Tend-hui versprach den Opfern und Geschädigten großzügige Unterstützung.
China kündigt Hilfe an
Peking/Berlin (AFP) – Trotz der angespannten politischen Beziehungen zu Taiwan hat der chinesische Präsident Jiang Zemin Hilfe nach dem schweren Erdbeben in der Nacht zu Dienstag angeboten. China sei bereit, jede mögliche Hilfe anzubieten, um die Verluste durch das Beben zu mildern, zitierte eine Sprecherin des chinesischen Außenministeriums am Dienstag den Präsidenten. Es habe „die Herzen“ der Menschen auf dem Festland „getroffen“.
„Chinesen auf beiden Seiten der taiwanesischen Meeresstraße sind eng verbunden wie Fleisch und Blut“, zitierte Jiangs Sprecherin den Präsidenten. Chinesische Behörden hätten nach Angaben der Sprecherin bereits Kontakt mit der taiwanesischen Verwaltung aufgenommen und bereiteten „jede notwendige Hilfe“ vor.
In einer Krisensitzung beschloss das chinesische Rote Kreuz am Dienstagmorgen eine Soforthilfe von insgesamt 160.000 US-Dollar (300.000 Mark), wie offizielle Stellen bekannt gaben. Das Erdbeben war auch in mehreren südwestlichen Provinzen Chinas zu spüren. Schäden oder Verletzte wurden von dort nicht gemeldet.
Die Beziehungen zwischen China und Taiwan sind seit Anfang Juli äußerst gespannt, nachdem der taiwanische Präsident Lee Teng-hui erklärt hatte, beide Seiten müssten auf gleichberechtigter Ebene miteinander umgehen. Dies wird in Peking als Versuch der endgültigen Abspaltung von der kommunistischen Volksrepublik gedeutet, aus deren Sicht Taiwan eine chinesische Provinz ist.
Japan bereitete nach Angaben des Außenministeriums in Tokio die Entsendung von 100 Erdbebenhelfern vor. Auch aus Deutschland wurde Hilfe zugesagt. Acht Teams mit Rettungshunden sowie 18 Experten des Technischen Hilfswerks brachen gestern nach Taiwan auf.
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