Jahrestag des Attentats von Hanau: Es gibt keine Ruhe
Vor drei Jahren tötete ein Rassist in Hanau zehn Menschen. Sein Vater bedroht heute die Hinterbliebene. Es ist nicht die einzige Klage der Betroffenen.
Erst kürzlich war Hans-Gerd R. wieder vor ihrem Haus, berichtet Serpil Temiz Unvar. Die Polizei habe, wie zuletzt, davor gestanden, aber der Rentner sei trotzdem gekommen. „Er spielt mit unseren Schmerzen“, sagt Temiz Unvar. „Das ist psychischer Terror. Ich habe Angst vor dem, was dieser Mann noch alles macht.“
So geht es seit Wochen. Immer wieder versucht Hans-Gerd R. sich dem Haus von Serpil Temiz Unvar und ihren drei Kindern zu nähern – der 75-Jährige lebt ganz in der Nähe. Auch an der Schule eines ihrer Kinder tauchte er auf. An Behörden verschickt er wirre Schreiben, beschäftigt die Justiz. Ausgerechnet der Mann, dessen Sohn, Tobias R., vor drei Jahren, am 19. Februar 2020, in Hanau ein rassistisches Attentat verübte und zehn Menschen erschoss. Darunter den Sohn von Serpil Temiz Unvar: Ferhat, 23 Jahre, Heizungsinstallateur. Bis heute bagatellisiert Hans-Gerd R. die Tat.
Der Vorgang ist kaum fassbar und zeigt, dass die Bedrohung für einige Hinterbliebenen bis heute anhält. Dabei hatte nicht nur die damalige Kanzlerin Angela Merkel nach dem Attentat erklärt, man werde sich den Spaltern der Gesellschaft „mit aller Kraft und Entschlossenheit entgegenstellen“.
Auch am Sonntag dürften ähnliche Töne erklingen, wenn auf dem Hanauer Marktplatz an das Attentat erinnert wird. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) wird da sein und Ministerpräsident Boris Rhein (CDU). Auch Angehörige sollen sprechen. Eine von ihnen: Serpil Temiz Unvar. „Wir sind enttäuscht, dass bis heute keine Konsequenzen aus dem Anschlag gezogen werden“, sagt die 47-Jährige. „Das werde ich auch so sagen.“ Mit dieser Enttäuschung ist sie nicht allein.
Seit dem Anschlag engagiert sich Temiz Unvar in der Initiative 19. Februar, einem Verein von Hinterbliebenen und Unterstützer:innen. Sie gründete eine Bildungsinitiative, die Rassismus in Schulen bekämpfen will. Momentan aber treibt sie vor allem der Fall Hans-Gerd R. um.
Im Herbst 2022 verwickelte er sie vor ihrer Wohnung erstmals in ein Gespräch, erinnert sich Temiz Unvar. Da habe sie ihn noch gar nicht erkannt. Wo sie denn arbeite, habe er gefragt. Und ob man sich nicht aus Halle kenne. Erst später sei ihr klar geworden, wen sie da vor sich gehabt habe, sagt Temiz Unvar. Und dass wohl der Halle-Anschlag gemeint war, wo ein Rechtsextremist zwei Menschen erschoss.
Ab dann sei Hans-Gerd R. immer wieder gekommen. Auf Fotos sieht man, wie er mit seinem Schäferhund direkt vor ihrem Haus steht, starr ins Fenster schauend. Unvar Temiz rief die Polizei. Inzwischen steht ein Streifenwagen vor ihrem Haus. Ein Gericht erteilte R. im Oktober ein Verbot, sich dem Haus auf 30 Meter zu nähern und Kontakt zur Familie aufzunehmen. Aber R. hält sich nicht daran. Ende Dezember wurde er für eine Nacht festgenommen, weil er einen Platzverweis ignorierte. 27 Ermittlungsverfahren gegen ihn wegen Verstößen gegen das Gewaltschutzgesetz liefen aktuell, erklärt die Staatsanwaltschaft Hanau.
Dem Attentäter-Vater misstrauen die Betroffenen schon lange. Sie halten den einstigen Ingenieur gar für einen Mittäter, zeigten ihn wegen psychischer Beihilfe zum Mord an. Schon länger war der Rentner als Querulant bekannt, bereits vor Jahren ermittelte die Polizei gegen ihn wegen Beleidigung und falscher Verdächtigung. Er wiederum stellte schon 2004 eine Anzeige, dass seine Familie bespitzelt werde – wie es später auch sein Sohn behauptete. Ein psychiatrisches Gutachten attestierte dem Vater 2020, dass er mit seinem Sohn „Wahnthemen“ teile.
In der Tatnacht hatte Tobias R. schließlich, nach den zehn Morden, auch seine Mutter und sich selbst erschossen – seinen Vater ließ er am Leben. Der will von den Schüssen nichts mitbekommen haben: Er habe geschlafen. Ermittlungen ergaben jedoch, dass in der Nacht auf seinem PC mehrmals die Internetseite seines Sohnes mit dem Tatmanifest aufgerufen worden war. Zwei Nachbarn wollen ihn vor dem Haus gesehen haben. Die Bundesanwaltschaft aber sieht Hans-Gerd R. nicht als Mittäter: Es gebe keine „tragfähigen“ Anhaltspunkte, dass er den Anschlag befördert oder überhaupt für möglich gehalten habe.
Aber Hans-Gerd R. gab keine Ruhe. In Briefen an Behörden behauptete er, sein Sohn sei ermordet worden. Nicht dieser habe das Attentat verübt, sondern ein Geheimdienst. Die Tatwaffen forderte er zurück, die Homepage seines Sohnes wollte er wieder freischalten lassen, Gedenkstätten für die Opfer sollten entfernt werden. Die Hinterbliebenen nannte er „wilde Fremde“, die sich „dem Deutschen Volk unterordnen“ sollten. Polizisten, die sein Haus durchsuchten, seien ein „Terrorkommando“. Und Hanaus Oberbürgermeister Claus Kaminsky (SPD) warf er Wahlfälschung vor.
Für die Schreiben musste Hans-Gerd R. im Oktober 2021 vors Amtsgericht Hanau. Aber er kam nicht. Die Polizei musste ihn holen. Fotos zeigen, wie er in Handschellen in den Saal geführt wurde, die Haare zausig. Dort trug er wieder seine kruden Gedanken vor, einen Verteidiger lehnte er ab. Das Gericht verurteilte ihn zu einer Strafe von 5.400 Euro.
Seine Schreiben an Behörden aber gingen weiter. Und ein Jahr später tauchte Hans-Gerd R. bei Serpil Temiz Unvar und der Schule ihres Sohnes auf, wo er nach einem Wortwechsel mit Schülern gedroht haben soll, man sehe sich später wieder, dann werde „etwas Großes“ passieren. Besorgte Eltern schrieben Bürgermeister Kaminsky an. Der verhängte für R. ein stadtweites Betretungsverbot für Schulen, Kitas sowie das Rathaus, wo er auch störte. Die Polizei versichert, dass es eine „fortlaufende Gefährdungsbewertung“ gebe.
Laut Staatsanwaltschaft laufen derzeit sieben Verfahren gegen Hans-Gerd R.: wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte, Bedrohung, Hausfriedensbruch, falscher Verdächtigung, Beleidigung. Mitte Dezember erhielt er einen neuen Strafbefehl, 4.200 Euro, wegen sechs Verstößen gegen das Näherungsverbot zur Familie Temiz Unvar. Der 75-Jährige klagte gegen das Verbot, zur Verhandlung aber erschien er nicht. Auch Behördenbriefe beantwortet er nach taz-Informationen nicht – schreibt die Ämter aber weiter rege an.
„Warum kann sich dieser Mann so viel erlauben?“, kritisiert Serpil Temiz Unvar. „Wollen die Behörden so lange warten, bis etwas Schlimmes passiert? Wenn ihn die Gesetze schützen, dann müssen diese verändert werden.“ Ein Umzug sei für sie keine Option, sagt Temiz Unvar. „Ferhat ist hier geboren, er ist hier aufgewachsen und gestorben. Ich kann hier nicht weg. Und ich will mich von diesem Mann auch nicht vertreiben lassen.“
Temiz Unvar lobt, dass die Polizei nun ihre Wohnung schützt. „Aber eigentlich müssten sie vor dem Haus des Vaters stehen.“ Als im Dezember Hans-Gerd R. festgenommen wurde, seien die Beamten einfach abgezogen. „Wir wussten nicht, warum. Keiner hat mit uns geredet.“ Dabei sollte genau das nicht mehr passieren. Schon nach dem Anschlag hatte die Polizei einigen Angehörigen, auch Temiz Unvar, gesagt, sie sollten den Vater des Täters in Ruhe lassen. Davon, dass dieser gleichzeitig wüste Schreiben verschickte, erfuhren sie nichts. „Wer schützt hier eigentlich wen?“, klagte Temiz Unvar.
Auch an anderer Stelle fühlen sich die Betroffenen allein gelassen. Vor Kurzem eröffneten sie mit Forensic Architecture, einem Team von Wissenschaftler:innen, die Menschenrechtsverletzungen nachgehen, eine Ausstellung im Hanauer Rathaus zu den offenen Fragen zum Anschlag.
Es sprach Cetin Gütekin, dessen Bruder Gökhan beim Anschlag erschossen wurde. Die meisten Fragen seien bis heute unbeantwortet, klagte er. „Es gab keine Entschuldigung, kaum ein Fehler wurde eingestanden. Und es gab keine einzige direkte personelle Konsequenz bei der Polizei oder den Behörden.“ Die Zäsur nach Hanau, sie müsse offensichtlich „von unten erzwungen“ werden, konstatierte Gütekin. Die Ausstellung sei ein Mittel dafür.
Auch im hessischen Untersuchungsausschuss, der seit anderthalb Jahren im Landtag tagt, sieht man Versäumnisse. So schilderten dort Experten, dass an einem Tatort, der Arena Bar, Opfer noch hätten fliehen können – wenn der Notausgang nicht verschlossen gewesen wäre. Die Staatsanwaltschaft stellte indes die Ermittlungen ein: Da die Betroffenen in eine andere Richtung gerannt seien, stelle sich die Schuldfrage nicht. Auch war die Notrufzentrale der Polizei in der Tatnacht unterbesetzt, eine Rufumleitung existierte nicht.
Und der Ausschuss musste erst einklagen, dass die Bundesanwaltschaft einige Hanau-Akten ungeschwärzt übergibt, zumeist Obduktionsberichte. Fragen zum Attentäter-Vater bespricht auch der Ausschuss dagegen nur nichtöffentlich – man wolle seine Persönlichkeitsrechte schützen. Die Betroffenen kritisieren das so pauschal als „unverständlich“.
Den Umgang der Polizei mit den Betroffenen monierte auch der Ausschuss: Sie seien in der Tatnacht allein gelassen worden, wurden zu spät unterstützt, einige fühlten sich wie Tatverdächtige behandelt. Selbst das Angebot, in der Rechtsmedizin von den Toten Abschied zu nehmen, hatte die Polizei nicht übermittelt.
Bis heute gibt es in Hanau auch nicht das versprochene Mahnmal zum Gedenken an den Anschlag, das eigentlich schon zum zweiten Jahrestag hatte eingeweiht werden sollen. Die Angehörigen wollen es auf dem Marktplatz sehen – die Stadtverordnetenversammlung hält diesen zentralen Ort nicht für vermittelbar. Eine Einigung steht bis heute aus.
„Deutschland will keine Veränderungen, aber wir brauchen sie“, klagt Serpil Temiz Unvar. Sie setze sich weiter dafür ein, wolle sich auch vom Attentäter-Vater nicht einschüchtern lassen. „Ich tue es für Ferhat. Und damit später niemand fragt: „Warum habt ihr nicht gekämpft?“
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