Jahrestag der Befreiung von Aachen: Spätes Gedenken an frühe Kapitulation
Vor 80 Jahren wurde Aachen als erste deutsche Stadt von den Alliierten eingenommen. Erstmals gab es dieses Jahr eine offizielle Gedenkfeier.
Dabei hat Aachen ein historisches Alleinstellungsmerkmal: Die westlichste Stadt Deutschlands war die erste, die die Nazis nach verbissenem Widerstand der Wehrmacht räumen mussten. Am 21. 10. 1944, also über sechs Monate vor Ende des Krieges, nach Wochen von Bombenhagel, Belagerung, erbittertem Häuserkampf und tausenden Opfern, hatten sich die letzten Wehrmachtstrupps unter Oberst Gerhard Wilck den US-Truppen ergeben. Die Legende sagt, dass sie um 12,05 Uhr mit einer weißen Babywindel an einem Stock aus ihrem Bunkerversteck gekrochen kamen.
Die Befreiung sei „eines der bedeutendsten Ereignisse unserer Geschichte“ gewesen, sagte am vergangenen Wochenende Sibylle Keupen, die parteilose und Grünen-nahe Oberbürgermeisterin bei einem Festakt zum 80. Jahrestag. Keupen hatte in den Krönungssaal des Rathauses geladen, ausdrücklich offen für alle BürgerInnen der Stadt. Auch VertreterInnen von nebenan waren gekommen, aus Belgien und den Niederlanden, um gemeinsam das Ende des Naziterrors vor 80 Jahren zu feiern. Es war brechend voll.
Ein solches Gedenken ist neu. Vorher galt: Erinnern? Volle Deckung!
1984, Nachfrage bei StadträtInnen: Was ist geplant am 21. 10.? Antwort unisono: Äh, was, nein, welches Jubiläum? 1994, Frage an den damaligen CDU-Fraktionschef: Was macht die Stadt zum 50. Jahrestag? Antwort: Was war denn am 21. Oktober? Gleichzeitig die FDP: Wir sehen kein Muss, da etwas aufzuarbeiten. Auch 2004, jetzt unter SPD-Stadtregie: nichts. Jahr um Jahr ignorierte Aachen seine Einmaligkeit. Zu sehr war offenbar immer noch schmähliche Kapitulation statt Befreiung im Hinterkopf, vielleicht auch Scham.
Konsumtempel statt Gedenken
Auch 2014 musste noch die Zivilgesellschaft ran. Die rührige Bürgerstiftung hatte eine große Gedenkfeier organisiert und die Kirchen der Stadt anstiften können, genau um 12.05 Uhr alle Glocken zu läuten. Gern hätte man alle Ampeln für fünf Minuten auf Rot stellen lassen, CDU-Oberbürgermeister Marcel Philipp lehnte indes ab.
Die Stadt hatte immerhin den Saal im ehrwürdigen alten Kurhaus gestellt, aber wer sich zierte zu kommen, war der OB. Er erklärte, er müsse just an diesem Tag ein Einkaufszentrum einweihen, und bat die Veranstaltung doch nach hinten zu verschieben. Konsumtempel statt Gedenken an die Befreiung? Marcel Philipp war schließlich zum Glockenläuten doch im Saal.
2024 dann also die erste offizielle Gedenkfeier. Als Festredner 2024 trat Joschka Fischer auf, grüner Ex-Außenminister und Ex-Marathonläufer, mittlerweile 76 Jahr alt. Fast eine Stunde sprach er, meist vom Blatt gelesen. Mit Aachen, wo „die Finsternis der Herrenmenschen“ zuerst endete, hielt er sich nicht lange auf.
Dabei gäbe es einiges zu erzählen. Aachen wurde 1944 bald zu einem Demokratielabor: So nannten die Befreier die Stadt, von der sie nicht wussten, was sie da für Menschen unter den verbliebenen 6.000 antreffen würden: alles stramme Nazis, verführte Hitler-Deutsche, Verängstigte, angeblich katholisch Unberührbare?
Fischer mahnt
Nach dem 21. 10. 1944 erlebte Aachen schnell weitere Premieren: Schon am 31. 10. wurde mit Franz Oppenhoff der erste Nachkriegs-OB von den Alliierten ernannt – der indes von einem Werwolf-Kommando der Nazis am 25. März 1945 ermordet wurde. Erste deutsche Nachkriegszeitung: Die Aachener Nachrichten, Januar 1945. Im März 1945 wurde in Aachen der Freie Gewerkschaftsbund gegründet.
Fischers Rede indes enthielt ein Feuerwerk an Mahnungen zur aktuellen Weltlage, zum Ukrainekrieg, gepaart mit Ekel um neuen Antisemitismus und Rassismus: „Ich kann diese Entwicklung, ehrlich gesagt, nicht fassen!“ Dazu Warnungen, wie schnell nationalistische Alleingänge das gemeinsame Europa „pulverisieren können“.
Überraschend der fulminante Dank an Konrad Adenauer, laut Fischer „die überragende Gründungsfigur“ der deutschen Nachkriegs-Demokratie („Nicht wahr, das hätten Sie von mir nicht erwartet …“), der alles richtig machte mit Westbindung, Aussöhnung mit Frankreich, erste Weichenstellungen zur heutigen EU. „Er war ein Konservativer bis hin zuweilen zum Reaktionären, aber er war eines nicht: Er war kein Nationalist.“
Gleich nach Fischers Ode an die Wachsamkeit wurde die Europahymne angekündigt. Erst nach einigen Takten erhoben sich die Gäste. Bei der Nationalhymne hätte es womöglich einen anderen Reflex gegeben. „Die europäische Berufung der Deutschen“ (Fischer) scheint in Herz und Hirn selbst eines sehr wohlmeinenden Publikums immer noch nicht recht angekommen zu sein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
US-Interessen in Grönland
Trump mal wieder auf Einkaufstour
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker