Jack Kerouac zum 100. Geburtstag: Der Trip ins abgrundtiefe Nichts
Der Schriftsteller Jack Kerouac inspirierte die Gegenkultur des 20. Jahrhunderts. Zum 100. Geburtstag sind zwei Neuübersetzungen erschienen.
Jack Kerouac war auf der Suche nach Gott. Sein Alter Ego in „On the Road“, dem legendären und folgenreichen Roman, der ihn 1957 ad hoc zu einer Berühmtheit macht, heißt nicht von ungefähr Sal Paradise.
An der Seite des unverbildeten Tatmenschen Dean Moriarty, alias Neal Cassady, hetzt Sal über die Landstraßen der Vereinigten Staaten, um das Paradies zu finden, das bei dem guten Patrioten Kerouac deutliche Züge des sagenhaften alten Amerikas aufweist, in dem noch Freiheit und Unabhängigkeit herrschen. Eine Wallfahrt.
Auch in „The Dharma Bums“, nur ein Jahr später erschienen und jetzt zum 100. Geburtstag des Autors in einer schönen neuen Übersetzung von Thomas Überhoff noch einmal zu entdecken, gibt es sie, diese oft atemlosen, gehetzten Straßenstenogramme, in denen Kerouacs Ideal einer „spontanen Prosa“ sich suggestiv verwirklicht.
Aber sie bilden hier nur Zwischenspiele einer anderen, eher vertikalen Bewegung, die sich deutlich langsamer vollzieht und die ihren symbolischen Ausdruck findet in den meditativen Bergwanderungen, die der Ich-Erzähler Ray Smith mit seinem Mentor und Buddy Japhy Ryder unternimmt. Der Trip geht in die Höhe, das Ziel ist eine transzendentale Existenzweise im Sinne des Dharma, der buddhistischen Lebens- und Heilslehre.
Kein zukünftiger Buddha
Jack Kerouac: „Der Dharmajäger“. Aus dem Englischen von Thomas Überhoff. Rowohlt, Hamburg 2022. 288 Seiten, 24 Euro
Jack Kerouac: „Engel der Trübsal“. Aus dem Englischen von Jan Schönherr. Rowohlt, Hamburg 2022. 528 Seiten, 26 Euro
„Inzwischen bin ich mit meinen Lippenbekenntnissen etwas heuchlerisch geworden und auch ein bisschen müde und zynisch“, stellt sich Ray Smith selbst vor. „Aber damals glaubte ich wirklich an Freigiebigkeit und Nächstenliebe und Demut und Hingabe und stille Einkehr und Weisheit und Ekstase, und ich glaubte auch, ein Bhikkhu aus alten Zeiten in modernem Gewand zu sein, der die Welt durchwandert (für gewöhnlich das riesige Dreieck New York, Mexico City, San Francisco), um das Rad der Lehre oder des Dharma zu drehen und mir Verdienste als zukünftiger Buddha (Erwecker) und zukünftiger Held im Paradies zu erwerben.“
Wie „On The Road“ ist „Die Dharmajäger“ ein großes Freundschaftsdokument. Kerouac erzählt hier von seinen Erlebnissen mit einer losen Gruppe Hipster-Buddhisten in und um San Francisco, im Zentrum der Zen-Poet Gary Snyder alias Japhy Ryder.
Ein „Bursche aus dem östlichen Oregon, mit Vater, Mutter und Schwester in einer Blockhütte tief im Wald aufgewachsen, ein Kind der Wälder, Holzfäller, Farmer, an Tieren und indianischen Überlieferungen interessiert, weshalb er, als er schließlich aufs College kam, so oder so schon ziemlich gut auf seine frühen Studien der Anthropologie und später der indianischen Mythen und der dazugehörigen Texte vorbereitet war. Schließlich lernte er Chinesisch und Japanisch, wurde Orientalist und entdeckte die größten aller Dharmajäger: die Zen-Verrückten aus China und Japan.“
Dieser moderne Thoreau nimmt Kerouac unter seine Fittiche und bringt ihm ein bedürfnisloses, kontemplatives Leben nahe, mehr oder weniger im Einklang mit der Natur. Die Hipster-Gesellschaft fordert zwar immer wieder ihr Recht, es gibt orgiastische Parties, Snyder/Ryder verführt so viele Frauen, dass nicht nur der Erzähler neidisch wird, und Smith säuft hier schon auf eine Weise, die Kerouacs trauriges Ende vorwegzunehmen scheint.
Appell zur Umkehr im Leben
Aber der Glutkern dieses Textes sind die lyrischen Passagen der Einkehr, der spirituellen Naturerfahrung und der zwischen bloßer Albernheit und Tiefsinn changierenden Zen-Frömmelei. „Die Dharmajäger“ ist ein Manifest, ein Appell zur Umkehr, zu einem antikonsumistischen Leben außerhalb der Konsens-Gesellschaft.
In einem langen Monolog bringt Ryder seine Dropout-Philosophie auf den Punkt. „Ich habe Whitman gelesen, wisst ihr, was er sagt, Fasst Mut, Sklaven, und lehrt fremde Despoten das Fürchten, er meint, das ist die Haltung für den Barden, den verrückten Zen-Barden von den alten Wüstenpfaden, schaut, die Welt ist voller Rucksackwanderer, Dharmajäger, die sich weigern, die verbreitete Forderung zu unterschreiben, sie sollten irgendwelche Waren konsumieren und müssten im Ausgleich arbeiten für das Privileg, diesen ganzen Scheiß benutzen zu dürfen, den sie gar nicht gewollt hatten, Kühlschrank, Fernseher, Autos, zumindest neue Angeber-Autos, bestimmte Haaröle, Deos und sonstigen Mist […]; ich sehe die Vision einer großen Rucksackrevolution, Tausende oder gar Millionen junger Amerikaner, die mit Rücksäcken durchs Land ziehen, zum Beten auf Berge steigen, Kinder zum Lachen bringen und alte Männer froh machen, junge Mädchen glücklich und alte Mädchen glücklicher, lauter Zen-Verrückte, die rumziehen und dabei ihnen scheinbar grundlos einfallende Gedichte aufschreiben und die durch Freundlichkeit und seltsame, unerwartete Taten jedermann und jeder lebendigen Kreatur Visionen von ewiger Freiheit vermitteln“.
Das hat die jüngeren Generationen angefixt, auch in der Bundesrepublik. Unter dem gar nicht unebenen Titel „Gammler, Zen und hohe Berge“ 1963 auf Deutsch erschienen, wird der Roman zu einem der Verständigungstexte für „die langsamste Jugendbewegung aller Zeiten“, so verhöhnt der Spiegel die sich gerade konstituierende Gammler-Szene. Aber auch die grüne Landkommunen-Bewegung in den 70er-Jahren kann sich ohne Verbiegungen auf ihn berufen.
Allein in der Holzhütte
Zum Ende hin übt sich Smith in ideeller Nachfolge des Aussteiger-Klassikers Henry David Thoreau, der eine Zeitlang in einer Hütte lebte, um das „Mark des Lebens“ kennenzulernen.
An Ryders Stelle, der San Francisco in Richtung Japan verlässt, um dort in einem Kloster seine buddhistischen Studien zu vervollständigen, lässt sich Smith als Feuerwächter auf dem Desolation Peak anstellen, einem Berggipfel im heutigen North Cascade National Park, Washington. Hier verbringt er zehn Wochen in einer primitiven Holzhütte, völlig allein, nur durch ein Funkgerät mit der Welt verbunden.
Geschult durch die Bergtouren mit Ryder, kommt er jetzt ganz zu sich. Fast schon zwangsläufig führt ihn dieses Exerzitium in Einsamkeit zu poetischen Visionen und nach ein paar Zweifeln und Anfechtungen eben auch zu so etwas wie Erleuchtung. „O Ray“, betet er angesichts eines Regenbogens, der ringförmig seinen Schatten umkränzt, „der Lauf deines Lebens gleicht dem eines Wassertropfens im unermesslichen Ozean, der ewiges Erwachen verheißt. Warum sich je wieder Sorgen machen?“
Wie sehr er die Einöde hier verklärt, um das Manifest mit einem Erfolg enden lassen zu können, wie sehr ihn der Aufenthalt in Wirklichkeit mit „Sorgen“ erfüllt hat, zeigt Jack Kerouacs späterer Roman „Desolation Angels“. „Engel der Trübsal“ lag bisher, vielleicht nicht ganz grundlos, nur in einer Teilübersetzung vor (als „Engel, Kif und neue Länder“, 1967) und erscheint jetzt erstmals vollständig.
Die Leere verstört
Was er hier oben tatsächlich gefunden hat, ist die totale Leere, die ihn aber nicht etwa erlöst, sondern völlig verstört und vom Buddhismus wieder abfallen lässt.
Eine Woche vor der Abreise überschlägt er den ideellen Ertrag seines Aufenthalts. „Dass ich mich allein nicht leiden kann, weil ich allein nur ich bin, ja nicht einmal das, und es ist so furchtbar monoton … Am Ende dieses Desolation-Abenteuers finde ich am Boden meiner selbst nur abgrundtiefes Nichts, schlimmer, nicht mal eine Illusion – Mein Hirn ist zerfleddert –“.
Man könnte sich an Thoreau erinnert fühlen, der nach seinem Aufstieg zum Mount Katahdin übermannt wird vom Gefühl des Ausgeliefertseins an eine menschenfeindliche Natur, in der kein göttlicher Puls zu schlagen scheint. Aber während Thoreau wieder hinabsteigt und in der lieblichen Idylle am Walden Pond seine naturreligiöse Konfession erneuert, fällt Kerouac gänzlich vom Glauben ab. „Oh, ich bin kein Buddhist mehr, ich bin gar nichts mehr!“, bekennt Duluoz.
Diese totale Desillusionierungserfahrung war vermutlich, so hat es jedenfalls sein Freund Allen Ginsberg später gedeutet, die eigentliche Ursache für seine konsequente Selbstzerstörung im Suff, die im Oktober 1969 mit seinem Tod endete.
Der Aufenthalt sei eine „lange, finstere Nacht der Seele“ gewesen, schreibt der Schriftsteller John Wray in seinem großartigen Nachwort zu „Engel des Trübsals“, „die auf ewig seinen naiven, fröhlichen Blick auf den Kosmos zerstörte, ganz gleich wie tapfer er versuchte, das vor der Welt zu verbergen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind