Ist ja nicht alles schlecht: Nicht heulen!
Nicht alles war schlecht an dieser Wahl: Schwarz-Gelb hat auch seine guten Seiten (wenn auch nicht sonderlich viele). taz-Autorinnen und Autoren spenden 23 Trostpflaster.
1. Das Superwahljahr ist vorbei. Endlich. ROLA
2. Ein Schwuler wird Außenminister. Guido Westerwelle wird der erste Schwule im Auswärtigen Amt seit … vermutlich seit Heinrich von Brentano. Das eröffnet wunderbare Spekulationen, ob und wie er zu Staatsempfängen in Saudi-Arabien oder Syrien mit seinem Lebensgefährten willkommen geheißen wird. Und ob Michael Mronz gemeinsam mit Joachim Sauer versuchen wird, sich auf Gipfeln und Staatsbesuchen vorm "Damenprogramm" zu drücken UWI
3. Eine Frau bleibt Kanzlerin. Schön. Steinmeier gab ja nur allzu gern den Schröder-Imitator, es stand zu befürchten, dass dieses selbstgerechte Getöse wieder in die tägliche Berichterstattung einziehen würde. Auch wenn Angela Merkel verloren hätte, hätte sie keinen Auftritt hingelegt, der zum beliebtesten politischen YouTube-Video geworden wäre. "Frauen, die sich einer Auseinandersetzung stellen, können auch verlieren. Das gehört zur Emanzipation dazu", hat Merkel gesagt. Eine gute Verliererin wäre für die Frauenförderung hilfreich gewesen. Jetzt hat sie gewonnen. Für die Emanzipation ist das noch besser. Frauen können genauso schlecht und genauso gut Kanzler wie Männer. Angie machts vor. JUL
4. Es gibt wieder klare Verhältnisse: Auf der einen Seite stehen die marktliberalen Kündigungsschutzabschaffer, Steuersenker und Atomlobbyisten. Auf der anderen Seite die Guten. Dass die Guten nicht an der Regierung sind, macht nichts. Im Gegenteil: Denn nur in der Opposition können sie die Guten bleiben. KUZ
5. Die Länder werden wieder rot. Häufig ist es so: Regiert ein politisches Lager auf Bundesebene, werden diese Parteien in den Ländern nach und nach auf die Oppositionsbänke versetzt, weil den Wählern ein glatter Durchmarsch doch zu weit geht. Das erste Opfer eines neuen Swings könnte ausgerechnet der selbsternannte Arbeiterführer Jürgen Rüttgers werden, wenn im Mai in NRW gewählt wird. SAM
6. Die Neonazis spielen keine Rolle. Ihre besten Momente hatten die deutschen Neonazis stets, wenn sie radikaler, aber auf einer Linie mit der Bild-Zeitung waren (68: Dutschke stoppen, 92: Asylanten stoppen). Wenn sie aber dumm genug sind, Mesut-Özil-Fußballgott und damit Deutschlands Hoffnungen auf die nächste Fußballweltmeisterschaft und damit die Bild-Zeitung und damit Volkes Seele anzugreifen, machen sie, Krise oder her, keine Schnitte. DZY
7. Die CSU hat verloren. In Bayern ist es Horst Seehofer und seiner CSU nicht gelungen, sich in den letzten Tagen des Wahlkampfes noch schnell als die bessere FDP zu präsentieren. Mit dem Versprechen, die Steuern zu senken, umgarnten die Christsozialen die eingefleischten Kapitalisten bei den Konservativen, und sogar potenzielle Piraten-Wähler wollte Karl-Theodor zu Guttenberg abgreifen, als er am Vorabend der Wahl faselte, man solle der Union auch wegen "der Freiheiten im Internet" die Stimme geben. Doch so blöde waren die bayerischen Wähler nicht, diese Köder zu schlucken. KUZ
8. Die Piraten haben das beste Ergebnis ihrer Geschichte erzielt. Die Abwehr gegen Vorratsdatenspeicherung und Internetsperren bleibt auch unter Schwarz-Gelb auf der politischen Agenda. Mit 2,0 Prozent der abgegebenen Stimmen hat die Piratenpartei den Sprung in den Bundestag zwar nicht geschafft. Aber nicht zuletzt die Wahlkampfkostenerstattung in Höhe von fast 720.000 Euro wird dafür sorgen, dass die Piraten in der nächsten Legislaturperiode in Fragen rund um Netzpolitik Kurs halten. Ahoi! FLEE
9. Es gibt wieder Alternativen: Mit der Wahl von Schwarz-Gelb ist die Suche nach tragfähigen gesellschaftlichen Modellen für das 21. Jahrhundert eröffnet. Im Idealfall kommen zwei Alternativen heraus. Dann wird man sich für eine entscheiden. PU
10. Die Sozialdemokratie bekommt eine letzte Chance. Denn hätte es für Schwarz-Gelb nicht gelangt, die SPD hätte sich (Verantwortung, Vaterland, Tralala) abermals auf eine große Koalition eingelassen - um sich beim nächsten Mal endgültig zu ruinieren. Seit einem Jahrhundert kämpft die deutsche Sozialdemokratie gegen den Verdacht, vaterlandslose Gesellen zu sein, weshalb bei ihr im Zweifel das soldatische Pflichtgefühl stärker ist als das blanke Eigeninteresse (und alle so: Hartz IV!) Jetzt aber kann sich die SPD als Partei des Proletariats erneuern - Linke, zieht euch warm an! DZY
11. Die Demokratie ist gestärkt. Im postideologischen Zeiten drohen ja alle Katzen grau zu werden. Rot-Grün hat unter Schröder mit der Agenda FDP-Politik, Merkel mit der großen Koalition prima sozialdemokratische Politik gemacht. Dieses Crossover von konservativ und sozialdemokratisch führt auf die Dauer zu Politikverdruss. Warum soll man noch wählen, wenn sowieso alle das Gleiche machen? Demokratie ohne Konfrontation, ohne scharf ausgetragene Interessengegensätze geht kaputt. Dass es links und rechts nicht mehr gibt, haben uns viele Neunmalkluge seit 1989 immer wieder erzählt. Es hat nie gestimmt. Mit Westerwelle als Minister sieht man das wieder schärfer. SR
12. Ein Deutschtürke kann auch in der FDP was werden. Bislang passten Einwanderer und bürgerliche Parteien nicht gut zusammen: Als Wähler schlugen sich die Migranten mehrheitlich auf die linke Seite - und als Kandidaten hatten sie schlicht keine Chance. Doch dank des überraschend guten Abschneidens der FDP schafft es erstmals ein Deutschtürke aus dem bürgerlichen Lager in den Bundestag: Serkan Tören, der auf der Landesliste der niedersächsischen Liberalen auf dem alles andere als sicheren Listenplatz acht antreten durfte - ein Fortschritt. SAM
13. Es wird nie wieder ein Kanzlerduell geben. Bei mindestens fünf Parteien, die sich in ihrer Stärke immer weiter annähern, wird die archaische Form des "Duells" endgültig obsolet. Und spätestens nach der "Elefantenrunde" am Sonntagabend, als Nikolaus Brender offen der Kanzlerin vorwarf, die Debatte aller Spitzenkandidaten vor der Wahl verhindert zu haben, geht das nicht mehr. Die Meinungsvielfalt in Deutschland ist größer, als es zwei KandidatInnen abbilden könnten, selbst wenn sie weniger kuschlig miteinander umgingen. PKT
14. Politik wird wieder lustig. Grau gewordene Menschen lächeln, wenn sie an Verbrecher wie Franz Josef Strauß oder autoritäre Parteidespoten wie Herbert Wehner zurückdenken. Die galten als witzig. Und sie hatten etwas zu sagen. Guido Westerwelle galt immer schon als Witzfigur. Jetzt hat er etwas zu sagen. Das macht ihn zum Typen. Politisches Kabarett könnte wieder wirklich gut werden. RÜT
15. Die Linke steht gut da. Allen neoliberalen Möchtegerngewinnern kann man zurufen: Ja, die SPD hat selbstverschuldet verloren, weil sie dem Neue-Mitte-Gequatsche auf den Leim gegangen ist und ihre Herkunft verraten hat. Zur Strafe holte die Linkspartei bundesweit 11,9 Prozent der Zweitstimmen und gewann zudem 16 in Ostdeutschland liegende Wahlkreise direkt. Und sie übersprang in allen westlichen Bundesländern deutlich die Fünfprozenthürde. Das zeigt: Das soziale Gewissen in diesem Land ist nicht tot. ROT
16. Die Bildungspolitik kann nur besser werden. Mit Schwarz-Gelb endet die bildungspolitische Vollbremsung durch Annette Schavan. Die CDU-Bildungsministerin im Bund wurde liebevoll Föderastin gerufen, weil sie die Kultusministerkonferenz für den Gral der Bildungsweisheit hielt. Ihre mögliche Nachfolgerin Cornelia Pieper (FDP) findet die Föderalismusreform schlicht Pfusch. Sie ist bereit, Gas zu geben: Mehr Bundeszuständigkeiten ("16 Länder erdrücken jede Lernmotivation"), mehr Geld und mehr Freiheit für bessere Schulen und Hochschulen. CIF
17. Ströbele gewinnt Kreuzberg. Im Berliner Bezirk Friedrichhain-Kreuzberg ist die Welt noch in Ordnung. Denn hier regiert weiterhin Grünen-Ikone Christian Ströbele. 46,8 Prozent der Erststimmen holte der 70-Jährige diesmal, noch mal gut 3 Prozent mehr als 2005. Damit holte Deutschlands prominentester Radfahrer zum dritten Mal seinen Wahlkreis und auch diesmal das einzige grüne Direktmandat im ganzen weiten Bundesgebiet. Und das trotz der starken Konkurrenz aus CDU-Busen-Skandaleuse Vera Lengsfeld, SPD-Youngster Björn Böhning und Linke-Bundesvize Halina Wawzyniak. Wenigstens hier sind die Grünen richtig groß. Und Ströbele der Größte. KO
18. Die Zeit der Volksparteien ist vorbei. So wie der Klimawandel hat auch die Wahl Deutschland einen weiteren Schritt in Richtung italienische Verhältnisse gebracht. Es wird nicht nur wärmer, sondern auch bunter. Eine ausdifferenzierte, diversifizierte, pluralistische Gesellschaft braucht, wenn sie über Repräsentation funktionieren will, entsprechende politische Vertretung. Auf dass die Fetzen fliegen und kein Thema mehr unter den Tisch fällt. AKR
19. Eine Bürgerrechtspartei kommt in die Regierung: Die FDP hat einen engagierten Bürgerrechtsflügel, zu dem nicht nur prominente Politiker wie Gerhart Baum und Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, sondern auch weniger bekannte Liberale, die sich in den vergangenen vier Jahren an sperrigen, aber wichtigen Themen wie der Kontrolle der Geheimdienste oder dem Austausch von Fluggastdaten mit den USA abgearbeitet haben - oft ohne große mediale Aufmerksamkeit. Wer registriert hat, was das CDU-geführte Innenministerium aus dem Verfassungsschutz machen will, weiß, wie nötig die Politik diese Liberalen in den nächsten vier Jahren haben wird. Wenn sie Macht bekommen und sich parteiintern durchsetzen können. Denn: Eine FDP ohne den Kampf für Bürgerrechte braucht niemand. DAS
20. Berlin bleibt Hauptstadt. Als die letzte schwarz-gelbe Regierung 1998 abgewählt wurde, war Angela Merkel noch "Kohls Mädchen" und Deutschland wurde noch von einem rheinischen Städtchen namens Bonn aus regiert. Exakt elf Jahre später ist Berlin, seit 1999 Regierungssitz, längst ein politisches und kulturelles Zentrum Europas mit mehr Besuchern in einem Jahr, als sich je nach Bonn verirrt haben (na ja, fast) - nicht nur wegen seiner wechselvollen Geschichte, aber auch. Die "Berliner Republik", das Borchardt, die Townhouses und Til Schweiger kann uns keiner nehmen - selbst die FDP nicht. Und, keine Angst: Kohl kommt auch nicht zurück. DENK
21. Gut ist, dass die FDP mitten in der "Krise" des Neoliberalismus mit reinem Neoliberalismus ("Mehr Markt! Weniger Steuern!") eine Wahl gewinnt. Geschuldet ist dies dem Selbstbewusstsein einer "neuen Elite", wie der Philosoph Axel Honneth die in den USA sogenannte kreative Klasse nennt. Als Index für ihren Aufstieg gilt dem US-Soziologen Florida zufolge der Anteil von Schwulen in leitenden Funktionen. Ihr Loha-Ideologe im "Kampf um Anerkennung" ist jedoch nicht Westerwelle, sondern der "Freidenker" Sloterdijk, der die "Triple-down-Theorie" auch noch vom letzten sozialstaatlichen Korrektiv befreien möchte, um "die elende Lage der herrschenden Klassen" zu bessern. Für Honneth kommt das einem "Umsturz" gleich. Sloterdijk antwortete dem "glücklosen Philosophieprofessor" in der FAZ - mit aller gebotenen Schärfe. HH
22. Deutschland wird Weltmeister. Nichts wird die zweite Amtszeit von Angela Merkel so prägen wie der Gewinn der Fußballweltmeisterschaft durch die deutsche Mannschaft beim WM-Turnier in Südafrika im Sommer 2010. Die Deutschen sind gern konservativ bis hin zur provinziellen Dackeligkeit. Sie hassen Veränderungen und Überraschungen und brauchen, egal welcher politischen Couleur sie anhängen, mehr als alles andere das Gefühl von Kontinuität. Immer dann, wenn die Deutschen politisch ganz bei sich selbst waren und einen konservativen Volkskanzler gewählt hatten, der sie voll und ganz repräsentierte, wurde Deutschland auch Fußballweltmeister. Das war bei Adenauer 1954, bei Schmidt 1974 und bei Kohl 1990 der Fall. Und das wird auch bei Merkel 2010 so sein. Der Gewinn der Fußball-WM ist der einzige Grund, warum man sich mit der neuen Regierung anfreunden kann. Und nach 20 Jahren ist es ja auch mal wieder an der Zeit. MIR
23. 2013 wird wieder gewählt. Und dann gibt es Rot-Rot-Grün. Ganz bestimmt. MBR
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen