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Israels ArmeeEs ist Krieg – und immer weniger gehen hin

Immer mehr Reservisten des israelischen Militärs verweigern den Dienst – manche still, manche begleitet von Protestbriefen. Die Motive sind vielfältig.

Israelische Soldaten bewachen die Grenze zu Gaza Foto: Amir Cohen/reuters

Jerusalem taz | Israels Armee steht vor einem Problem: Immer weniger der einberufenen Reservisten wollen offenbar noch zum Dienst erscheinen. Auf 50 bis 60 Prozent ist die Reaktionsrate laut einem Bericht des öffentlich-rechtlichen Senders KAN gesunken, von mehr als 100.000 Verweigerern ist die Rede. Und in den vergangenen beiden Wochen kam zu den größtenteils stillen Verweigerungen eine Welle von Protestbriefen hinzu. Darin forderten unter anderem mehr als zehntausend aktive und pensionierte Reservisten, für die Rückkehr der weiter 59 in Gaza festgehaltenen israelischen Geiseln den Krieg zu beenden.

Regierungschef Benjamin Netanjahu erteilte dem aber gleich darauf eine Absage: Israel brauche „Geduld und Entschlossenheit, um zu gewinnen“. Bezalel Smotrich, Finanzminister und ein rechtsextremer Siedler, ging zu Beginn der Woche noch weiter: „Seien wir ehrlich, die Rückkehr der Geiseln ist nicht das wichtigste Ziel.“ Der Gazastreifen müsse dauerhaft militärisch besetzt, die palästinensische Bevölkerung verdrängt werden.

Auf Nachfrage will die Armee die Berichte zu den Verweigerungen weder bestätigen noch negieren, offizielle Zahlen gibt es nicht. Doch die Armeeführung muss offenbar reagieren und will künftig laut einem Bericht der Zeitung Haaretz besonders im Gazastreifen vermehrt Wehrdienstleistende statt Reservisten einsetzen. So will sie die Zahl der Einberufungen aus der Reserve senken.

Den Anfang der jüngsten Protestwelle hatten vor zwei Wochen rund 1.000 Luftwaffenpiloten gemacht. „Derzeit dient der Krieg hauptsächlich politischen und persönlichen Interessen, nicht der nationalen Sicherheit“, hieß es darin. Er führe nicht zur Erreichung der erklärten Ziele, gefährde aber das Leben „der Entführten, der Soldaten sowie unschuldiger Zivilisten“.

Rund zwei Drittel der Bevölkerung für ein Ende des Krieges

Obwohl die Briefe nicht explizit zur Wehrdienstverweigerung aufrufen, reagierte die Armee umgehend und entließ alle noch aktiven Unterzeichner. Netanjahu sprach von einer „extremistischen Gruppe, die versucht, die israelische Gesellschaft von innen zu spalten (und) die Regierung zu stürzen“.

Umfragen zeichnen jedoch ein anderes Bild: Rund zwei Drittel der israelischen Bevölkerung unterstützen ein Ende des Krieges, wenn dafür die verbliebenen Geiseln freikommen. Seither tauchen anhaltend ähnliche Briefe auf: Aktive und frühere Fallschirmjäger, Marineoffiziere, Veteranen des Geheimdienstes Mossad. Mehrere hundert der Unterzeichner sind laut Berichten noch als Reservisten aktiv. Jüngst folgten zudem Polizisten, Autoren, zivile Piloten, Architekten, Akademiker.

Doch die Motive gehen weit auseinander: „Ich persönlich habe wegen der Dinge unterschrieben, die Soldaten aus meiner Einheit in Gaza getan haben“, sagt einer der unterzeichnenden Infanterie-Reservisten, der anonym bleiben möchte. Er erzählt von Kameraden und einem Kommandeur, die in den ersten Kriegsmonaten ohne militärische Gründe palästinensische Häuser angezündet und von „Rache“ gesprochen hätten. Im vergangenen Jahr habe er daraufhin bereits zwei Einberufungen im Stillen ignoriert.

„Doch ich bin damit die Ausnahme“, sagt der Mitte 30-Jährige. Kameraden hätten vielmehr von Erschöpfung oder beruflichen und familiären Schwierigkeiten als Beweggründe gesprochen. Bei einer amtlichen Erhebung unter Reservisten gaben jüngst 41 Prozent an, wegen ihrer häufigen Abwesenheit Anstellungen verloren zu haben.

„Klaffende Lücke zwischen Versprechen und Erfolgen“

Die Soziologin Yael Berda von der Hebräischen Universität in Jerusalem sieht in den Briefen zwei große Veränderungen: „Zum einen steht damit fast die gesamte Protestbewegung für ein Ende des Krieges ein, anstatt sich wie zuvor in Teilen nur auf die Rückkehr der Geiseln zu beschränken“, sagt Berda.

Bemerkenswert sei auch die Erwähnung palästinensischer Opfer: Nach dem Terrorangriff und den Massakern der Hamas am 7. Oktober 2023 hätten viele das Leid der palästinensischen Bevölkerung lange ignoriert oder gerechtfertigt. Seit Kriegsbeginn wurden mehr als 50.000 Menschen im Gazastreifen getötet. Seit bald zwei Monaten hat Israel die gut zwei Millionen Einwohner von allen Hilfslieferungen abgeschnitten.

Neben moralischen und wirtschaftlichen Motiven sieht die Soziologin schwindendes Vertrauen in die politische Führung als zentralen Antrieb vieler Unterzeichner. „Es gibt eine klaffende Lücke zwischen den Versprechen und den nachweisbaren Erfolgen der Regierung.“ Besonders die Waffenruhe Anfang des Jahres habe vielen gezeigt, dass die Befreiung der Geiseln und die Fortsetzung des Krieges sich widersprächen. Dass Israel sie einseitig am 18. März gebrochen und gleichzeitig den autoritären Justizumbau wieder aufgenommen hat, der das Land bereits 2023 gespalten hatte, gehe vielen zu weit.

Weil es um Netanjahus Machterhalt und Interessen und nicht um Sicherheit geht, steht für viele Unterzeichner die Legitimität der Regierung und des Krieges in Frage

Yael Berda, Soziologin

„Weil es um Netanjahus Machterhalt und Interessen und nicht um Sicherheit geht, steht für viele Unterzeichner die Legitimität der Regierung und des Krieges in Frage“, sagt Berda. Konflikte mit der Führung des Inlandsgeheimdienstes Schin Bet und der Justiz sowie Ermittlungen gegen Netanjahus Büro wegen undurchsichtiger Verbindungen nach Katar täten dazu ihr Übriges.

Dass die Briefe und die Verweigerungen von Reservesoldaten vor diesem Hintergrund für die Regierung bedrohlich werden könnten, zeige deren Reaktion. „Die Heftigkeit, mit der sie die Unterzeichner als Verräter brandmarken wollen, beweist, dass sie besorgt sind“, sagt Berda. Entscheidend für den Erfolg der Protestbewegung sei aber, ob sie die Masse der unpolitischen Verweigerer überzeugen kann: Davon, dass ein Ende des Krieges auch in ihrem Interesse ist.

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2 Kommentare

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  • „Ich persönlich habe wegen der Dinge unterschrieben, die Soldaten aus meiner Einheit in Gaza getan haben“-"in den ersten Kriegsmonaten ohne militärische Gründe palästinensische Häuser angezündet und von „Rache“ gesprochen hätten."- Aber nein hier wird sich an das Völkerrecht gehalten- erzählt uns die israelische Regierung und auch desöfteren unsere eigene. Jeder der Videos von isr. Soldaten in den letzten Monaten gesehen hat, die sie selbst ins Netz gestellt haben, der Berichte von Organisationen wie Breaking the Silence gelesen hat und auch die zahlreichen Reportagen oft auch mit Hilfe von isr. Whistleblowern weis, dass das nicht stimmt. Stattdessen ignorieren ein Haufen westl. Demokratien die Aussagen unzähliger Soldaten:



    www.breakingthesil...eter_English-2.pdf



    www.haaretz.com/is...-a9f3-fefff2e50000



    Und selbst die isr. Politiker sind so eindeutig mit dem was sie vorhaben und das tw. von Anfang an. Aber ich bin mir sicher Appelle der EU werden helfen...nicht!

  • Ein weiterer Grund, das völkerrechtswidrige Besatzen sofort zu beenden: es erodiert die Moral von Soldaten, die Besatzer und Stützen eines Ungleichheits-System werden müssen.